Sie ist nicht der Staat – oder doch?
Mit feinen Beobachtungen kommentiert Christian Geyer-Hindemith die „Selbstsäkularisierungsthese“ von Angela Merkel:
[Kardinal] Marx umspielt derart eloquent und sympathisch das theologische Zentrum, spart es mit soziologischen Beobachtungen aus und lässt dabei doch so kardinalsrollenkonform die römische Flagge heraushängen, dass nach der Sendung niemand den Eindruck hat, einen Abend vertan zu haben. Aber doch jeder Angela Merkel Recht geben muss, dass das Christentum in Deutschland womöglich dabei ist, sich selbst abzuschaffen.
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Die Kanzlerin als Hohepriesterin der deutschen Flüchtlingspolitik. In einer Situation der schwächelnden kirchlichen Verkündigung übernimmt Angela Merkel die Deutung des Christlichen im Rahmen einer regierungsamtlichen politischen Theologie (geistlich begleitet von Kardinal Marx). Ohne jeden eschatologischen Vorbehalt (Erik Peterson) gibt der Berliner Heilige Stuhl (vulgo Kanzleramt) die Devise aus: Christenpflicht bricht europäisches Recht. Damit, mit der Ersetzung von Recht und politischer Gestaltungsfähigkeit durch Nächstenliebe, macht sich Angela Merkel persönlich zu einem Moment ihrer Gesellschaftsanalyse, nach der die Selbstabschaffung des Christentums droht. Dezent und mit der gebotenen Lakonie hat das neulich der Schriftsteller Martin Mosebach formuliert. Auf die Frage des „Deutschlandfunks“, ob Angela Merkel nicht in gewisser Weise die Jeanne d’Arc urchristlicher Werte sei, antwortete Mosebach: „Das geht doch eben gerade nicht. Urchristliche Werte sind immer höchst persönlich. Der Staat ist nicht zur Nächstenliebe angehalten, weil er gar keinen Nächsten hat. Er ist keine Person. Ich meine, das konnte Ludwig XIV. von sich sagen, der Staat bin ich, aber Angela Merkel ist nicht der Staat.“
Schöne neue Welt zwischen Thron und Altar: Es ist in unserem Land wohl alles noch ein bisschen verrückter als die kühnsten historischen Bilder erahnen lassen.
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