© Ulrich Strelzing Was ist eine Grenze? Es ist der Ort, der Zugehörige und Nichtzugehörige trennt und Orientierung bietet – wie hier zwischen Deutschland und Österreich
Maastricht, Schengen, Dublin. Die unschuldigen Namen dreier europäischer Städte sind das Symbol für das Versagen des Rechts in Europa. Das Jahr 2015 wird als ein Jahr des Rechtsbruchs in die Geschichte eingehen, eines Rechtsbruchs, der deswegen dramatisch ist, weil er von Staaten begangen wurde, die eigentlich für den Schutz des Rechts verantwortlich sind. Was ist der Rechtsstaat wert, wenn die Staaten sich ihm nicht mehr unterordnen? Woran sollen wir uns halten, wenn wir uns auf das Recht nicht mehr verlassen können?
Als Mitte August für Griechenland ein drittes Hilfspaket im Umfang von 86 Milliarden Euro genehmigt wurde, war zum wiederholten Mal ein trügerischer Friede („Zeit kaufen“) mit dem Verstoß gegen geltendes Recht bezahlt worden. Fiskalische Solidarität ist gemäß Geist und Buchstaben des Vertrags über die Europäische Union („Maastricht“) strikt verboten: No Bailout heißt das Gebot. Das schert die Euroretter nicht, es regt sie noch nicht einmal auf. In lediglich fünf von 19 Eurostaaten liegt derzeit die Schuldenquote unter den von Maastricht maximal geduldeten 60 Prozent (es sind die fünf kleinsten: Estland, Lettland & Co.).
Griechenland hingegen weist 177 Prozent aus, Italien 134 und Deutschland 76 Prozent. Alles verboten! Aber es wird nicht geahndet. Dass die Europäische Zentralbank im Verein mit einer Reihe nationaler Notenbanken gegen ihr Mandat die Grenze zur monetären Staatsfinanzierung längst überschritten hat, gehört ebenfalls zum alltäglichen Rechtsbruch.
Europa wird nicht mehr durch das Recht integriert, – sondern durch den Rechtsbruch, falls man dies noch Integration nennen darf und nicht besser als Zeichen des Zerfalls deuten muss. Die Krise Europas resultiert nicht aus überzogener, sondern aus unzureichender Rechtstreue. Wer dies beklagt, wird entweder als Legalist verspottet oder, schlimmer noch, mit Achselzucken übergangen.
Schengen ist zur Makulatur geworden
Die Flucht von Hunderttausenden Menschen in die EU quittiert die Gemeinschaft ein weiteres Mal mit Rechtsbruch. Das Dublin-Abkommen zur Registrierung und Aufnahme der Flüchtlinge im Land ihrer Ankunft hat sich als untauglich erwiesen. Und das nicht erst seit dem Ansturm der vielen. Schon 2011 wies das deutsche Innenministerium das Bundesamt für Migration an, Asylbewerber nicht mehr gemäß der Dublin-Verordnung nach Griechenland zu überstellen, da dort die Menschenrechte nicht geachtet würden. Damit entfiel schon damals für die Griechen jeglicher Anreiz, die Kontrollen ernst zu nehmen. Ökonomen nennen das „Moral Hazard“.
Angesichts des Drucks auf die Außengrenzen ist das Schengen-Regime inzwischen vollends zur Makulatur geworden. Seine Philosophie besteht bekanntlich darin, den Schutz der Binnengrenzen abzubauen, wenn der Schutz der Außengrenzen verstärkt wird. Der Abbau im Inneren hat stattgefunden, aber die Außengrenzen sind undicht, weil die Staaten mit der Aufgabe überfordert sind. Der Schengen-Deal ist gescheitert – was gerade jene beklagen müssten, die mit guten Gründen vom Segen der Einwanderung überzeugt sind, aber diese nicht auf einen Rechtsbruch gründen lassen wollen.
„Machen den Ausnahmezustand zum Regelfall“
„Wir machen den Ausnahmezustand zum Regelfall, ohne den Notstand erklären zu müssen, weil ihn zu erklären eine Tabuverletzung wäre“, sagt der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer. Die Vorsorge für den Ausnahmezustand durch eine Notstandsgesetzgebung war in den sechziger Jahren von einer breiten linken politischen Bewegung bis aufs Messer bekämpft worden. Es darf den Notstand bis heute offiziell nicht geben. Deswegen ereignet er sich jetzt einfach schicksalhaft. Und die Rebellen von damals schweigen.
Die Idee der Entpolitisierung durch das Recht, der auch die Politik sich zu unterwerfen hat, wird inzwischen abgelöst durch eine Repolitisierung von Europas Unordnung. Man meint, es genüge, dass die handelnden Akteure demokratisch gewählt wurden und heuristisch agieren. Doch wer die Notwendigkeit von Prinzipien leugnet, verfällt ins Dahintreiben: Das Fahren „auf Sicht“ gilt als Ausweis pragmatisch-demokratischer Rationalität in der Krise. Dabei war es einmal eine der Gründungsformeln des neuzeitlichen Rechtsstaates, dass nicht alles, was Gegenstand demokratischer Mehrheitsentscheidung sein könnte, auch erlaubt ist.
Das Volk wird im Übrigen nicht gut behandelt: Weder zu den Euromilliarden noch zur Flüchtlingshilfe wagte man es zu befragen, gilt das Volk hierzulande doch als unberechenbar. Am Ende ist das eingetreten, was der Paternalismus der Eliten verhindern wollte: Teile des Volkes fühlen sich heimatlos oder marginalisiert – die Eliten tragen eine Mitschuld, wenn die völkische AfD zehn Prozent der Wählerstimmen erhalten könnte.
Disziplinloses Durchwursteln
Die Ausnahme ist intellektuell aufregender als der Normalfall. Das wusste schon Carl Schmitt, der Rechtsdenker der Nationalsozialisten. Aber inzwischen hat der Ausnahmezustand viel von seinem heroischen Pathos verloren. Die Ausnahme taugt noch nicht einmal dazu, die Regel zu bestätigen – lässt doch der Rechtsbruch in Permanenz die Regel zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen und die Ausnahme zur Normalität mutieren. Am Ende wird disziplinloses Durchwursteln zum Dauerzustand. Die paradoxe Floskel vom „geordneten Ausnahmezustand“, mit der ein Sprecher der Bundespolizei in Rosenheim den Alltag seines Einsatzortes beschrieb, hätte gut zum Wort des Jahres 2015 getaugt.
Man muss die Euro- und die Migrationskrise zusammendenken. Beide Rechtsbrüche haben nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine logische Verbindung. Geldpolitik wie Migrationspolitik unterliegen der Illusion der Grenzenlosigkeit. Mario Draghis „Whatever it takes“, sein unbegrenztes Schutzversprechen für den Euro, ist das monetaristische Pendant der Migrationsökonomik: einer vermeintlich unbegrenzten Aufnahmekapazität Europas für die Fremden ohne Obergrenze.
Uneingeschränkt kann immer nur die Hilfsbereitschaft sein, nicht aber die tatsächliche Hilfe. Uneingeschränkt kann der Bailout-Wille der Retter sein, nicht aber der konkrete Kredit: Selbst die kaum überschaubaren Rettungsmilliarden mit allen ihren vielen Nullen sind am Ende endlich. Irgendwann ist Schluss.
Utopie der vollkommenen Entgrenzung
Die Utopie der vollkommenen Entgrenzung ist die große Illusion des herrschenden Universalismus. Von Schillers Ode an die Freude („Seid umschlungen, Millionen“) führt ein direkter Weg in die Eine-Welt-Läden Westdeutschlands. „Alle Menschen werden Brüder“ mag gut gedichtet sein, aber es ist schlecht praktiziert, um noch einmal den Staatsrechtler Depenheuer zu zitieren. Inzwischen beginnt die Erste Welt, sich vor den Folgen ihres Universalismus zu fürchten.
Der menschenrechtliche Moralismus scheitert am ökonomischen Gesetz der Knappheit. Solidarität ist selbst eine knappe Ressource. Das Geld, das die Griechen bekommen, kann nicht gleichzeitig nach Portugal fließen. Bloß Mario Draghi meint, die Druckerpresse im Dreischichtbetrieb („Quantitative Easing“) werde das Knappheitsgesetz außer Kraft setzen.
Wenn es eine Lehre aus den Rechtsbrüchen des Jahres 2015 gibt und einen Weg zurück zum Recht, dann diesen: Wir müssen neu über Grenzen nachdenken. Und zwar gerade dann, wenn wir davon überzeugt sind, dass die Wanderung der Menschen und der Tausch von Waren und Dienstleistungen im Saldo zum Wohle aller sind – und jegliche Art des Protektionismus zu Armut und Unfreiheit derer führt, die sich abschotten.
„Wir können nicht alle lieben“
Was ist eine Grenze? Es ist die Linie, die innen und außen scheidet, Zugehörige von Nichtzugehörigen trennt und Orientierung bietet. Kindern muss man „Grenzen setzen“. Wer freilich die Grenze auf das Bild des geschlossenen Schlagbaums reduziert, hat nichts verstanden. Dass offene Märkte für Waren wie Menschen auf offene Grenzen angewiesen sind, ist die Einsicht der europäischen Aufklärung. Aber es geht stets um die Anerkennung der Grenze, nicht um deren Wegfall, wovon der Universalismus träumt. Denn es hilft alles nichts: Das Gesetz der Knappheit nötigt zur Auswahl. „Wir können nicht alle lieben“, wusste der heilige Augustinus, ein Kirchenvater der Spätantike.
Daraus muss man heute nicht mehr zwingend folgern, dass zuallererst den christlichen Mitbrüdern und Schwestern Solidarität und Liebe zuteilwerden solle. (Auch wenn zu denken gibt, dass der Jude Lord George Weidenfeld, der als Flüchtling aus Wien 1938 den Nazis entkam, heute eine Stiftung „Save Havens“ für die besonders grausam verfolgten christlichen Flüchtlinge aus Syrien gegründet hat.) Niemand darf sich den Zufall, durch Geburt deutscher Staatsbürger geworden zu sein, als individuelle Leistung anrechnen. Das befreit aber den Club der Deutschen nicht von der Pflicht zu entscheiden, wem Hilfe zuteilwerden soll und wo die Grenze ist und ob er sich 100.000 oder eine Million Flüchtlinge zumuten will.
Souveränität ist in Verruf gekommen
Die bisher beste und historisch längste Erfahrung im Umgang mit Grenzen haben die Völker im Lauf der Geschichte mit dem Nationalstaat gemacht. Nicht zuletzt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert rühmte er sich größter Offenheit. Unglücklicherweise ist der Nationalstaat durch die Nationalsozialisten in Verruf gekommen. Das ist ein schwer ausrottbares Missverständnis. „Was soll schlimm sein an zivil geöffneten Staaten?“, sagt der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio.
Der zum Nationalstaat zwingend dazugehörende Grenzbegriff ist jener der Souveränität: die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbefristete Gewalt. Auch die Souveränität ist in Verruf gekommen, ebenfalls zu Unrecht. Um den Euro zu retten, seien die Staaten gezwungen, nicht nur geldpolitische, sondern auch fiskalische und sozialpolitische Souveränität an Brüssel abzugeben, wird gefordert.
Die solcherart provozierte Umverteilungslust Brüsseler Bürokraten würde die Praxis unkontrollierter Verantwortungslosigkeit in Europa nur vergrößern. Man wird Verständnis dafür haben müssen, dass Staaten wie Griechenland oder Ungarn die Drohung, deutsche oder französische Polizisten könnten demnächst zur Grenzsicherung auf ihrem Hoheitsgebiet aktiv werden, als Beschädigung ihrer Souveränität interpretieren.
Das Stärkste, was die Schwachen haben
Nicht die Abschaffung nationalstaatlicher Souveränität, sondern ihre Stärkung wäre ein Ausweg. Das Konzept der „Volkssouveränität“ ist eine vernünftige Erfindung der Aufklärung. Es enthält nicht nur eine „rechte“, sondern auch eine „linke“ Lesart: Nicht nur den Eliten, sondern auch den einfachen Leuten sind Macht und Selbstbestimmungsrecht in ihrem Staat gegeben, in dem alle sich aufgehoben fühlen dürfen. In Abwandlung eines alten Gewerkschaftsspruches könnte man sagen: Der Nationalstaat ist das Stärkste, was die Schwachen haben.
Volkssouveränität in den Grenzen des Nationalstaats ist die angemessenere Voraussetzung für eine offene Gesellschaft als der moralische Universalismus der Grenzenlosigkeit. Am Ende ist der langsame Streichquartettsatz der deutschen Nationalhymne von Haydn/Hoffmann von Fallersleben nicht nur musikalisch, sondern auch politökonomisch dem universalistischen Schlusschor aus der neunten Symphonie von Beethoven/Schiller überlegen.