Türkei: Mord an Christen ist für Staatsanwälte kein Terror
20. April, 2016
Am 18. April 2007 hatten fünf junge Männer in der osttürkischen Provinzhauptstadt Malatya drei Christen grausam ermordet und wurden auf frischer Tat von der Polizei festgenommen. Necati Aydın, Uğur Yüksel und der Deutsche Tilmann Geske hatten sich in den Räumen des evangelischen Zirve-Verlages mit ein paar jungen Männern, die Interesse am christlichen Glauben bekundet hatten, über einige Wochen hinweg zum Bibelstudium getroffen. Dies war offenbar nur ein Vorwand, um sich das Vertrauen der späteren Opfer zu erschleichen.
Obwohl die Taten politisch motiviert waren, ließ man den Terrorverdacht jetzt fallen. Deniz Yücel hat für DIE WELT berichtet:
Wer steht in der Türkei unter Terrorverdacht? Zum Beispiel die Anglistin Meral Camci, der Historiker Muzaffer Kaya, die Psychologin Esra Mungan und der Mathematiker Kivanc Ersoy. Sie gehören zu den insgesamt 2212 Wissenschaftlern, die Anfang des Jahres einen Aufruf zum Ende der Gewalt in den kurdischen Gebieten unterzeichnet und damit den Zorn von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf sich gezogen hatten. Mehrere Dutzend weitere Unterzeichner verloren ihren Job, gegen einige Hundert dieser Wissenschaftler wurden Disziplinar- oder Strafverfahren eröffnet. Und vier sitzen in Haft. Der Vorwurf: Werbung für eine terroristische Vereinigung.
Keine Terroristen sind in den Augen der Staatsanwaltschaft hingegen die fünf Männer, die im April 2007 in der südostanatolischen Stadt Malatya drei Christen ermordet haben. Wie zunächst die Tageszeitung „Cumhuriyet“ berichtete, hat die Staatsanwaltschaft Malatya in ihrem Schlussplädoyer den Anklagepunkt der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung fallen gelassen.
Die Morde an dem 36-jährigen türkischen Pastor Necati Aydin, dem 32-jährigen türkischen Christen Ugur Yüksel und dem 45-jährigen deutschen Missionar Tilmann Geske hatten für internationales Aufsehen gesorgt. Die Täter waren in die Räume des evangelikalen Zirve-Verlags eingedrungen, hatten ihre Opfer geknebelt, sie an Händen und Füßen gefesselt und schließlich ihre Kehle durchgeschnitten. „Ich gehe fest davon aus, dass die türkischen Behörden alles unternehmen werden, um dieses Verbrechen aufzuklären und die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte damals Frank-Walter Steinmeier, wie heute Bundesaußenminister.
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Und die Voraussetzungen für eine Ahndung des Verbrechens schienen wirklich günstig, immerhin waren die Mörder noch am Tatort festgenommen worden. Doch es folgte eine jahrelange juristische Farce. Im Jahr 2012 wurde die Anklage mit den Prozessen gegen die vermeintliche Putschistenorganisation Ergenekon zusammengeführt, die mit Billigung der AKP-Regierung von Staatsanwälten aus dem Umfeld der Gülen-Bewegung gegen hochrangige Militärs, aber auch gegen Journalisten, Wissenschaftler und andere Personen des öffentlichen Lebens betrieben wurden. So wuchs die Zahl der Angeklagten im Zirve-Prozess auf 21 Personen, darunter Kommandanten der Gendarmerie in Malatya. Nach einer Gesetzesnovelle, mit der die Dauer der Untersuchungshaft auf fünf Jahre beschränkt wurde, wurden die fünf Attentäter im März 2014 aus dem Gefängnis entlassen und unter Hausarrest gestellt.
Etliche Christen in der Türkei werden neuerdings von der Terrororganisation IS bedroht. Die Bonner Querschnitte weisen darauf hin, dass seit einiger Zeit der christliche Radiosender „radio shema 98.0“ in Ankara massiv bedroht wird, so dass die Polizei anhaltend mit zwei Autos vor der Tür steht. Zeitgleich geriet die protestantische Kurtuluş-Gemeinde, zu deren Arbeitszweigen auch Radio Shema gehört, derart unter Druck, dass vor Gottesdiensten bis zu 50 Polizisten jeden einzelnen Gottesdienstbesucher genau kontrollierten, um etwaige Anschläge zu verhindern. Soner Tufan, Generalmanager von Radio Shema, schrieb: „Bislang haben wir noch nie gesehen, dass uns die Polizei so ernsthaft schützt.“ Auch habe er erfahren, dass der Premierminister der Türkei angeordnet habe, „alles zu tun, um uns zu schützen“.
Auch die anderen evangelischen Gemeinden in der Türkei sind informiert worden, dass der IS mit Anschlägen gedroht habe, weshalb die Polizei mit verstärkten Patrouillen versuchen werde, die Gemeinden zu schützen. Auch das Büro des Bibelkorrespondenzkurses in Istanbul hat in den letzten Monaten verstärk Drohungen vor allem per Telefon erhalten, wie aus Mitarbeiterkreisen bekannt wurde. Auch hier wird vermutet, dass dies aus dem Umfeld des IS kommen könnte.
Aufgrund der aktuellen Situation riefen türkische Pastoren und Leiter die Christen in aller Welt dazu auf, verstärkt für ihre Glaubensgeschwister in der Türkei zu beten.