M. Kotsch zum Völkermord im Osmanischen Reich

Armenier 1915 in Syrien_ZEIT 20150423

Foto: Die Zeit am 20150423

Angesichts der historischen Tatsachen ist die Polemik der aktuellen türkischen Politik tatsächlich mehr als unanständig. Der Artikel von Michael Kotsch in der Zeitschrift im Bibelbund ist an dieser Stelle eine notwendige Klarstellung:

Der BibelbundAktuelles, Islam und Christentum, Kultur und Gesellschaft

Völkermord in der Türkei und die Christenverfolgung

Das Schicksal armenischer und assyrischer Christen 1915-17 und heute. Veröffentlicht am 7. Juni 2016 aus Bibel und Gemeinde 116, Band 2 (2016), Seite 41-58.

Rund 1,5 Millionen armenische und assyrische Christen wurden während des Ersten Weltkriegs in der Türkei von Regierungstruppen ermordet. Hunderttausende verhungerten als Folge der Vertreibungen, wurden vergewaltigt oder gezwungen zum Islam zu konvertieren. Auch noch hundert Jahre später ist der Völkermord an den Armeniern in der Türkei ein absolutes Tabuthema. Gesetze zum Schutz des Türkentums verhindern eine öffentliche Diskussion und eine offene Untersuchung dieser Massaker.

Bis vor 600 Jahren waren weite Gebiete der heutigen Türkei von einer starken christlichen Minderheit bewohnt. Zur Zeit des Neuen Testaments zogen Paulus und seine Begleiter durch die damaligen römischen Provinzen Asia, Bithynia, Galatia, Lycaonia, Ponthus, Cappadocia und Cilicia, um auf Jesus Christus aufmerksam zu machen. Wie der Augenzeuge Lukas in seiner Apostelgeschichte berichtet, entstanden hier schon in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts zahlreiche christliche Gemeinden. Bereits im 3. Jahrhundert bekannte sich ein großer Teil der Menschen dieser Region zum christlichen Glauben. Das Oströmische, Byzantinische Reich regierte in der heutigen Türkei bis zur Eroberung Konstantinopels 1453.

Tolerante Osmanen

Doch schon ab dem 6. Jahrhundert erober­ten türkische Stämme immer weitere Gebiete im Osten des Landes. Die muslimischen Seldschuken besetzten im 11. Jahrhundert den größten Teil Anatoliens. Um 1299 begründete Osman I., Gazi (1259–1326), das nach ihm benannte Osmanische (Türkische) Reich, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1918) die Region beherrschte.

In seiner Blüte­zeit umfasste das Osma­ni­sche Reich große Teile des Nahen Ostens, Nordafrikas, der Krim, des Kaukasus und des Balkans. Im Vergleich zu anderen islamischen Herrschern waren die Osmanen in Bezug auf den Glauben ihrer Untertanen relativ tolerant.1

In dem multikulturellen Reich wurden Christen zwar nicht als gleichwertig betrachtet, konnten ihrem Glauben und ihren Geschäften aber weitgehend frei nachgehen.

Nur sehr selten kam es zu offensichtlichen Diskrimi­nierungen und regional be­schränk­ten Pogromen. Auf dem Land hatten die überwiegend orthodoxen Christen eigene Dörfer und Schulen. In den Städten bewohnten sie christliche Quartiere. Sie waren verpflichtet, eine Sondersteuer zu bezahlen und durften weder missionieren noch muslimische Ehepartner heiraten. Auch bestimmte Berufe blieben ihnen verschlossen.2

Türkische Depression

Im 19. Jahrhundert verlor das Osmanische Reich einen großen Teil seines politischen Einflusses und seines Territoriums an die europäischen Kolonialmächte England und Frankreich. Auf internationaler Ebene sprach man von der Türkei als dem kranken Mann am Bosporus. Zunehmend geriet das Land in eine nationale Identitätskrise.

Man suchte nach einem Sündenbock, dem man die Schuld am wirtschaftlichen und politischen Niedergang anlasten konnte. Wie so häufig boten sich auch hier gesellschaftliche Minderheiten als vorgeblich Schuldige an. Zunehmend betrachte man vor allem die armenischen, aramäischen und assyrischen Christen als Landesfeinde und Fremdkörper.

Ähnlich wie in vielen anderen europäischen Ländern entwickelte sich im 19. Jahrhundert auch in der Türkei ein Nationalismus als neue identitäts­stiftende Ideologie. Wie zeitgleich in Deutschland, Frankreich, Italien und Groß­bri­tan­nien meinte man auch in der Türkei, mit der gemeinsamen Kultur und Sprache ein staatstragendes Motiv gefunden zu haben. Unter den Jungtürken und dem späteren Staatsgründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938), wurde das Türkentum sogar zu einer Art Religionsersatz hochstilisiert. Kurden, Christen und Jesiden passten nicht zu dem neuen Ideal eines einheitlichen, türkischen Staates. So kam es schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu ersten Pogromen gegen türkische Christen.

Christenfeindlicher Nationalismus

Der Völkermord an den Armeniern war nicht nur religiös motiviert, sondern mindestens ebenso sehr nationalistisch begründet. Im deutlichen Gegensatz zu früheren Jahrhunderten betrachtete man den Islam nun als unverzichtbares Merkmal eines wahren Türken.

Mitte des 19. Jahrhunderts lebten auf dem Gebiet der heutigen Türkei mehr als zwei Millionen Christen. Damals entsprach das etwa 25 % der Bevölkerung. In verschiedenen Kriegen befreiten sich seit 1875 Bosnien, Herzegowina, Montenegro, Serbien, Rumänien und Bulgarien mit der Hilfe Russlands aus der osmanischen Herrschaft.

In der Türkei wurden diese Ereignisse als nationale Niederlage verstanden. Immer stärker betrachtete man die Staaten Europas als feindliche, christliche Mächte. Türkische Nationalisten diffamierten die Christen im eigenen Land als heimliche Verbündete der außenpolitischen Feinde.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts strömten hunderttausende muslimische Flüchtlinge (Muhad­schir) aus dem Bal­kan, Albanien und Bosnien nach Anatolien, wodurch die Konflikte mit der einheimischen christlichen Bevöl­kerung weiter angefacht wurden. Zunehmend verschlechterte sich die öffentliche Stimmung gegen christliche Armenier, Aramäer, Assyrer und griechisch Orthodoxe. Zuerst wurden kriminelle Übergriffe gegen Christen lediglich toleriert oder heruntergespielt. Am Ende plante die türkische Regierung die Ausrottung aller Christen im eigenen Land. Man wollte eine reine islamisch-türkische Gesellschaft, ohne fremde Kulturen und Religionen.

1843 ließ der kurdische Stammes­führer Bedirxan Beg (1803-1868) bei Massakern und Plünderungen mindestens 10 000 Armenier ermorden. Frauen und Kinder wurden z. T. gezwungen, Muslime zu werden. Andere wurden in die Sklaverei verkauft.3

1894–1896 wurden bei ausgedehnten Pogromen bis zu 300 000 armenische Christen getötet. Außerdem fanden in den Verfolgungen auch 25 000 assyrische und syrisch-orthodoxe Christen den Tod.4

1909 wurden bei Pogromen in Adana und der Provinz Kilikien rund 30 000 armenische Christen ermordet. Infolge der Plünderungen und Zerstörungen kam es zu Epidemien und einer Hungersnot, die weitere 20 000 Todesopfer forderten.5

Während des Zweiten Balkankrieges 1913 wurden bis zu 400 000 orthodoxe und katholische Bulgaren aus den Gebieten der heutigen Türkei vertrieben, in denen sie jahrhundertelang relativ friedlich gelebt hatten.

1915–1917 schließlich wurden 1 500 000 armenische und aramäische Christen im Osmanischen Reich systematisch ermordet. Hunderttausende wurden nach Mesopotamien und Arabien deportiert, zahlreiche starben unterwegs, einige flohen in den russischen Teil Armeniens.6

Zunehmende Diskriminierung

Wie andere Völker­schaften, die unter osmanischer Herrschaft lebten, erstrebten auch die Armenier gegen Ende des 19. Jahrhunderts politische Unabhängigkeit. Einige hofften dabei auf die Unterstützung des traditionell orthodoxen Russland. Insbesondere die sozialistische Huntschak-Partei und die politisch ähnlich ausgerichtete Daschnak-Partei befürworteten den Einsatz von Gewalt zur Erlangung der nationalen Souveränität. In den 1890er Jahren kam es so zu vereinzelten Morden an osmanischen Beamten durch armenische Terroristen.7

Daraufhin unterstützte der türkische Sultan die Bildung irregulärer kurdischer Kavallerieeinheiten, der Hamidiye, die mit staatlicher Legitimation armenische Dörfer plünderten und deren Bewohner ermordeten.8 Hunderttausende Armenier fanden in diesen von der Regierung unterstützten Massakern den Tod.

Im Sommer 1894 weigerten sich die Armenier von Sasun, die von der Regierung und den örtlichen kurdischen Stammesführern eingeforderte doppelte Steuerlast zu bezahlen. Die sozialistische Huntschak-Partei versuchte vergeblich, aus dem friedlichen Widerstand einen gewalttätigen Aufstand zu machen. Deren Aufrufe waren für das türkisches Militär und irreguläre Hamidiye-Einheiten jedoch 1895 ein willkommener Anlass, 32 armenische Dörfer zu überfallen, auszuplündern und 4000 Menschen zu ermorden.9

Eine daraufhin stattfindende Pro­test­demonstration der Armenier in Konstan­tinopel / Istanbul wurde von der Polizei mit Waffengewalt aufgelöst. Türkische Na­tionalisten fühl­ten sich dadurch zu weiteren Verfolgungen ermutigt.

Tagelang belagerten sie rund 3000 Armenier, die sich aus Angst in mehreren Kirchen verbarrikadiert hatten. Erst nach massivem, diplomatischem Druck Russlands konnten die Armenier wieder zurück in ihre Häuser ziehen. In anderen Landesteilen kam es daraufhin zu monatelangen Übergriffen und Morden an Armeniern.10

Als sozialistische Armenier aus Protest in der Ottomanischen Bank in Konstan­tinopel Geiseln nahmen, um die Rückgabe des zu Unrecht beschlagnahmten Eigentums zu erzwingen, kam es in der Stadt zu einem grausamen Pogrom. Mit Billigung der Behörden wurden in wenigen Tagen zahllose Wohnungen zerstört und 14 000 Armenier ermordet.

Von den 1908 faktisch die Macht übernehmenden Jungtürken erwarteten die Armenier zuerst eine Verbesserung ihrer prekären Lage. Schon bald wurde jedoch deutlich, dass das die Partei dominierende Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihad ve Terakki Cemiyeti) eine türkisch- nationalistische Politik verfolgte.

Während der Machtkämpfe mit Sultan Abdülhamid II. (1842-1918) fanden innerhalb weniger Wochen 20.000 Armenier den Tod, ohne dass die europäischen Großmächte einschritten, deren Militär in unmittelbarer Nähe stationiert war.11

An dem verlorenen Ersten Balkankrieg (1912/13) gaben die türkischen Nationalisten der christlichen Minderheit im Land die Schuld. Wieder kam es zu gewalttätigen Übergriffen und einer massiven armenischen Auswanderungswelle nach Russland und Amerika. Noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs war rund ein Drittel der armenischen Bevölkerung in der Türkei entweder tot oder geflohen.

Unter der diktatorischen Regierung der Jungtürken Enver Bey, Talât Pascha und Cemal Pascha trat die Türkei 1913 an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg ein. Die erste Phase der militärischen Auseinandersetzung mit Russland endete für die Türken jedoch bereits um die Jahreswende 1914/15 mit einer verheerenden Niederlage in der Schlacht von Sarıkamış. Auf russischer Seite kämpften auch einige armenische Einheiten, die sich davon eine staatliche Unabhängigkeit erhofften. Das jedoch diente der Jungtürkischen Regierung als Vorwand, nun massiv gegen alle Armenier im Land vorzugehen, obwohl deren große Mehrheit loyal der Türkei gegenüberstand und in der Armee gegen Russland kämpfte.12

Ablauf des Völkermords

Zur Schaffung eines einheitlichen Nationalstaats planten die Jungtürken die sprachliche Türkisierung des Vielvölkerreiches und vor allem die gezielte Zer- und Umsiedlung nicht-türkischer Ethnien.

Im Jahr 1915 beschloss das Komitee für Einheit und Fortschritt, zu dem auch der spätere Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, gehörte, die restlose Vernichtung der Armenier. Zuerst wurden die armenischen Soldaten der osmanischen Armeen entwaffnet und dann entweder getötet oder als reine Arbeitsbataillone neu organisiert. Damit sollte möglichen Protesten innerhalb der Armee bei den späteren Massakern an der armenischen Zivilbevölkerung vorgebeugt werden. Durchgeführt wurde diese Säuberung der Armee vor allem durch konkurrierende Kurden und muslimische Flüchtlinge vom Balkan.13 Parallel dazu wurden tausende von gebildeten und einflussreichen Armeniern in der Hauptstadt Konstantinopel / Istanbul verhaftet.14 Damit sollte die Organisation eines möglichen armenischen Widerstandes ebenso verhindert werden wie ein Protest ausländischer Staaten, zu denen die armenische Elite Kontakte unterhielt.

Schon vor dem eigentlichen Depor­tationsgesetz vom 27. Mai 1915 fanden in Anatolien die ersten Vertreibungen statt. Die vereinzelten Anschläge der armenisch-sozialistischen Hunt­schak-Partei dienten der Regie­rung als willkommene Rechtfertigung für ihr rücksichtsloses Vor­gehen gegen die christliche Bevölkerung.

Vor den Augen ausländischer Diplomaten wurde die geplante Ausrottung der türkischen Armenier umgesetzt. Offiziell sprach man lediglich von einer notwendigen Umsiedlung der Christen in die syrische Wüste. Wie verantwortliche türkische Militärs bei späteren Prozessen jedoch zugaben, war die Aktion von Anfang an auf die restlose Vernichtung der Armenier ausgerichtet.

Viele starben schon beim Zusammen­treiben der Bevölkerung. Die meisten kamen während der Deportationszüge ums Leben. Wer nicht fliehen konnte, starb am Zielort infolge von Hunger und Epidemien.15

Häuser und Grundstücke der Armenier wurden zwangsenteignet. Geld, Schmuck und andere Wertgegenstände wurden konfisziert. Möbel und das übrige bewegliche Eigentum wurde entweder vom Staat eingezogen oder der muslimischen Bevölkerung zur Plünderung überlassen.16 Den Armeniern wurde nicht einmal erlaubt, Nah­rungs­mittel mit sich zu nehmen, da man ja unter anderem plante, sie auszuhungern.

Im Juni 1915 berichtete der deutsche Botschafter Hans von Wangenheim nach Berlin:

„Dass die Verbannung der Armenier nicht allein durch militärische Rücksichten motiviert ist, liegt zutage. Der Minister des Innern Talaat Bey hat sich hierüber kürzlich […] dahingehend ausgesprochen‚ dass die Pforte [die Regierung in Konstantinopel] den Weltkrieg dazu benutzen wollte, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden; das sei auch im Interesse der mit der Türkei verbündeten Deutschen, da die Türkei auf diese Weise gestärkt würde.“17

Zur selben Zeit schrieb der General­konsul in Konstantinopel Johann Heinrich Mordtmann:

„Das lässt sich nicht mehr durch militärische Rücksichten rechtfertigen; es handelt sich vielmehr, wie mir Talaat Bej vor einigen Wochen sagte, darum, die Armenier zu vernichten.“18

Tausende von Armeniern wurden in Viehzügen tagelang in großer Hitze ohne Nahrung und Wasser durch das Land gefahren, bis ein Großteil von ihnen tot war. Franz Günther, der Vizepräsident der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, hielt im August 1915 dazu fest:

„Man muss in der Geschichte der Menschheit weit zurückgehen, um etwas Ähnliches an bestialischer Grausamkeit zu finden wie die Ausrottung der Armenier in der heutigen Türkei.“19

Tagelang schwammen tausende von Leichen in den nahegelegenen Flüssen. Wer nicht gleich getötet worden war, wurde vom türkischen Militär und den kurdischen Hilfstruppen geschlagen, vergewaltigt und dann in Todesmärschen Richtung syrische Wüste getrieben. Andere starben an Krankheiten, Hunger und Entkräftung.

Auf dem Weg ins anatolische Konya stieß Armin T. Wegner 1915 auf

„verlassene armenische Dörfer und Waisen, die um ihr Überleben kämpften. […] Die Gegend um Aleppo und die Strecke entlang des Euphrat über Deir al-Sur waren zu Todeszonen geworden. Reisende, deutsche Offiziere und Beamte berichteten von ‚Leichenparaden‘ entlang des Weges. Tausende Skelette und verwesende Tote, aber auch die Leichen gerade erst Verstorbener zeugten von den Armenier Trecks, die durch die Region getrieben wurden. […] Bei Tibini stieß Wegner auf ein Massengrab: ‚Viele gebleichte Menschenknochen, namentlich Schädel, Kinderschädel, Schädel mit schwarzem Frauenhaar, Locken, ziemlich alle Brustrippen gebogen wie Spangen, Leichengeruch.“20

Über die Deportation von 20000 Armeniern aus Erzincan und die gleichzeitige Ermordung von 3000 Menschen berichtete ein beteiligter türkischer Soldat bei einer späteren Gerichtsverhandlung:

„Man habe in der Schlucht einen Trupp armenischer Frauen und Kinder umstellt, und auf Befehl sei alles niedergemacht worden. Es habe ihnen Leid getan, auf die hübschen, jungen Frauen zu schießen, aber es sei so befohlen gewesen. Viele Frauen hätten ihre Kinder in den Fluss geworfen, andere Kinder hätten die Türken mitgenommen, um sie im Islam zu erziehen.“21

Als der osmanische Gouverneur von Aleppo, dem vorgeblichen Zielort der armenischen Deportation, nachfragte, wie viel Notunterkünfte er für die Vertriebenen vorbereiten solle, wurde ihm mitgeteilt, man benötige gar keine Wohnungen.22 Auch dadurch wurde erneut deutlich, dass es – im Gegensatz zu der offiziellen politischen Sprachregelung – eben nicht um eine Umsiedlung, sondern um eine Ausrottung der Armenier ging.

Unter der muslimischen Bevöl­kerung, die jahrhundertelang mit Christen zusammengelebt hatte, kam es zu Unruhen und Sympathiekundgebungen mit den verfolgten Armeniern. Einige Muslime erhoben Einspruch gegen die Plünderungen und Vergewaltigungen. Andere versuchten den Deportierten Nahrungsmittel und Kleidung zukommen zu lassen oder versteckten ihre armenischen Nachbarn. Selbst führende türkische Regierungsbeamte stellten sich offen gegen die geplanten Massentötungen von Armeniern.

Die Gouverneure von Ankara, Kastamonu und Yozgat wurden aufgrund ihrer Kritik an der Armenier-Politik der Regierung abgesetzt. Der Gou­ver­neur Ankaras, Mazhar Bey, wurde entlassen, weil er sich weigerte, die Armenier während der Deportation töten zu lassen. Die muslimischen Landräte von Lice, Midyat, Diyarbakır und Beşiri sowie die Gouverneure von Basra und Müntefak wurden aus demselben Grund ermordet oder hingerichtet.23

Missionare als Zeugen und Nothelfer

Da das Deutsche und das Os­manische Reich im Ersten Weltkrieg miteinander verbündet waren, konnten die deutschen Missionare, Ärzte und Lehrer, Diakone und Hand­­werker auch während die­ser Jahre ihrer Tätigkeit nachgehen. Oftmals wurden sie Augenzeugen des Völkermords an den Armeniern und konnten au­then­tische Berichte für die späteren Prozesse beisteuern.24 Ihre Möglichkeiten, die Massaker zu verhindern, waren allerdings nur sehr begrenzt.

Exem­pla­risch für die von einigen deutschen und schweizerischen Missio­naren geleistete Unterstützung der Vertrie­benen soll hier Beatrice Rohner (1876-1947) genannt werden, die in Aleppo, dem Zielort der Deportationen, zeitweilig ein Waisenhaus für armenische Kinder unterhielt.25 Zuerst wollte der türkische Befehlshaber Ahmet Cemal Pascha (1872-1922) gar kein Hilfswerk für Armenier zulassen. Durch Verhandlungen mit dem deutschen General Kreß von Kressenstein erklärte er sich schließlich bereit, einem Waisenhaus für 350 Kinder zuzustimmen.

Nach den detaillierten Angaben Rohners erreichten nur die wenigsten Armenier Aleppo und das zumeist vollkommen entkräftet. Von einem Flüchtlings­treck, der in Anatolien mit 3336 Personen startete, überlebten beispielsweise nach sechsmonatiger Wanderung lediglich 720.26 Schon bald kümmerte sich Rohner um rund 800 Waisen.

Bereits wenige Monate später ließ Cemal Pascha 70 Jungen in ein Regierungswaisenhaus überführen, wo sie islamisiert werden sollten. Kinder, die sich weigerten, wurden auf die Straße gesetzt. Nach und nach wurden schließlich alle Kinder abgezogen und in staatlichen Umerziehungs­an­stalten untergebracht. Das Heim musste geschlossen werden.

Im Oktober 1915 bildeten dreizehn im Orient tätige deutsche Missionen eine Orient- und Islamkommission unter Leitung von Johannes Lepsius. Die Vereinigung sollte sich darum kümmern, verfolgte Armenier zu unterstützen.27 In einer Petition an Reichskanzler Bethmann Hollweg (1856-1921) forderten sie die Regierung auf, das Leiden der Armenier nicht zu ignorieren. Politische Inter­ventionen blieben aber die Aus­nahme, weit stärker engagierte sich die Kommission in der humanitären und geistlichen Hilfe für die armenischen Vertriebenen.

Anwalt der Armenier

In Deutschland ist insbesondere der evangelische Theologe Johannes Lepsius (1858-1926) als Anwalt der Armenier in Erinnerung geblieben. Als junger Pfarrer verbrachte er mehrere Jahre in dem damals zum Osmanischen Reich gehörigen Jerusalem (1884-1886).

1895 gründete er die Deutsche Orient-Mission, die sich insbesondere der Mission unter Muslimen widmete.28

Um sich selbst ein Bild von den Massakern an der armenischen Bevölkerung machen zu können, reiste Lepsius 1886 in die betroffenen Gebiete.

Daraufhin startete er die deutsch-armenische Waisen­haus­arbeit in Talas und im mesopotamischen Urfa (dem alten Edessa). Besonders tatkräftig wurde er hierbei von frommen pietistischen Kreisen aus Deutschland unterstützt. Mit seiner auch ins Englische, Französische und Russische übersetzten Dokumentation Armenien und Europa wurde er europaweit bekannt.

Da die evangelische Kirche nicht bereit war, ihn für die rasch wachsende Arbeit in der Türkei freizustellen, legte Lepsius sein Pfarramt nieder und gründete in Berlin ein Armenier-Hilfswerk. Abgesehen von der ganz praktischen Unterstützung war es Lepsius ein Anliegen, die armenischen Christen geistlich zu erwecken. 1897 initiierte er eine Teppichmanufaktur, die den verarmten Armeniern der ersten großen Verfolgungswelle eine Arbeitsmöglichkeit bot.

In Potsdam entstand unter seiner Leitung das Muhammedanische Seminar (1909-1912). Hier sollten der Islam erforscht und zukünftige Missionare auf die Auseinandersetzung mit der anderen Religion vorbereitet werden.

Immer wieder setzte sich Lepsius auch in dieser Zeit politisch für die Rechte der Armenier ein und wurde deshalb von der deutschen und der türkischen Regierung scharf kritisiert. Kurz nach Beginn der Deportationen (1915) reiste er ins Osmanische Reich, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen und um türkische Politiker in Istanbul zu überzeugen, die Massaker zu beenden.29

Lepsius‘ Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei wurde 1916 sofort nach seinem Erscheinen offiziell verboten, weil man eine massive Verschlechterung ihrer Beziehungen zur türkischen Regierung befürchtete. Trotzdem verbreitete sich der sachkundige und faktenreiche Bericht schnell. Lepsius sollte in diesem Zusammenhang festgenommen werden und floh deshalb in die Niederlande, von wo aus er seine Unterstützung für die Armenier weiterführte. In enger Zusammenarbeit mit dem Genfer Völkerbund organisierte Lepsius nach dem Ersten Weltkrieg praktische Hilfen für die Ansiedlung der verbliebenen Armenier in Syrien. Dazu gehörte auch der Freikauf christlicher Frauen und Kinder.30

„Erfolgreiche“ Armenier-Deportation

In der Türkei hingegen wurde der Völkermord als Erfolg gefeiert. Am 29. August 1915 stellte Talât Pascha fest:

„Die Arme­nier­frage wurde gelöst. Es gibt keine Veran­lassung, Volk oder Regierung wegen der überflüssigen Grausamkeiten zu beschmutzen.“31

Ernst Jäckh vom Auswärtigen Amt des Deutschen Reiches, erklärte im Oktober 1915:

„Innenminister Talaat machte keinen Hehl daraus, dass er die Vernichtung des armenischen Volkes als eine politische Erleichterung begrüße.“32

Der US-Botschafter Henry Morgenthau (1856-1946) fasste seine Gespräche mit der Jungtürkischen Regierung folgendermaßen zusammen:

„Als die türkischen Machthaber die An­weisungen für diese Deportationen gaben, fällten sie ein Todesurteil für eine ganze Rasse; dies war ihnen sehr wohl bewusst, und in den Gesprächen mit mir unternahmen sie keinen Versuch, diese Tatsache zu verbergen. […] Ich bin sicher, dass die gesamte Geschichte der Menschheit noch nicht einen solch grausamen Vorfall erlebt hat. Die großen Massaker und Verfolgungen der Vergangenheit wirken geradezu unbedeutend, verglichen mit den Leiden des armenischen Volkes 1915.“33

Obwohl der Völkermord an den Armeniern bis in Details hinein auch im europäischen Ausland bekannt war, weigerte sich der damalige deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, die Türkei als verbündete Militärmacht öffentlich zu kritisieren.

Die Morde, Plünderungen und Verschleppungen hatten ihren Höhepunkt zwar überschritten, setzten sich aber noch bis 1917 fort.

Lediglich in Konstantinopel und Smyrna konnten Massen-Deportationen und Massaker verhindert werden, weil der deutsche General Liman von Sanders der türkischen Regierung mit militärischen Gegenmaßnahmen drohte.

Insgesamt starben bei diesem Völkermord an den armenischen Christen rund 1,5 Millionen Menschen. Manche türkischen Regierungsstellen sprachen in den nächsten Jahren von „nur“ 800.000 Toten. Hunderttausende armenische Frauen und Kinder wurden gezwungen, Muslime zu werden. Etwa 300.000 Armeniern gelang die Flucht in die USA, nach Russland, Lateinamerika und Australien.34

Von den 2 Millionen Armeniern, die um 1900 im Gebiet der heutigen Türkei lebten, blieben bis 1922 noch gerade einmal 100 000. Die meisten Überlebenden waren sozial und kulturell entwurzelt. Mit traumatischen Erfahrungen durch die Ermordung ihrer Familienangehörigen fanden sie sich plötzlich weitgehend besitzlos in einer für sie fremden Umgebung wieder.35

Infolge der Plünderungen und Enteignungen flossen rund 80 Millionen Türkische Lira und damit zweieinhalb Jahreshaushalte des osmanischen Staates in die Taschen korrupter Beamter und der Jungtürkischen Regierung. Hunderte armenische Schulen, Kirchen und Klöster wurden in den Jahren 1915 – 1917 geplündert und zerstört oder in Moscheen umgewandelt; viele weitere historische Monumente, Kunstwerke und Kulturgüter wurden vernichtet oder gingen für immer verloren.36

Reaktionen auf die Massaker

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs drängten Frankreich, Großbritannien und Russland Sultan Mehmed VI. (1861-1926) zu einer gerichtlichen Untersuchung des Völkermords an den Armeniern (1918).

Angeklagt wurden zahlreiche regionale und lokale Beamte sowie Jungtürkische Regierungsmitglieder des Komitees für Einheit und Fortschritt. Das zuständige Militärgericht verurteilte 17 Hauptverantwortliche zum Tod, darunter den ehemaligen Innenminister und Großwesir Talât Pascha, den ehemaligen Kriegsminister Enver Pascha und den einstigen Marineminister Cemal Pascha.37 Die drei Minister flohen vor dem Zugriff der Behörden nach Deutschland.

Andere Angeklagte wurden von der türkischen Nationalbewegung unter Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei, freigepresst. Die weitere Strafverfolgung wurde nach Beginn des griechisch-türkischen Kriegs aufgegeben.

Atatürk prägte daraufhin die bis heute in der Türkei propagierte Interpretation. Demnach gab es keinen Völkermord an Armeniern in der Türkei. Regional seien bedauerlicherweise einige Tausend Armenier zu Tode gekommen. Bei den Getöteten handele es sich aber vor allem um illoyale Feinde der Türkei, die für Übergriffe auf Muslime verantwortlich seien. Die Zahl der Toten würde durch die ausländischen Feinde aus propagandistischen Gründen maßlos übertrieben.38

1923 erließ die türkische Regierung unter Mustafa Kemal Atatürk eine allgemeine Amnestie für alle im Zusammenhang mit dem Völkermord Angeklagten. Inzwischen hatten gewaltbereite Armenier eine Organisation mit dem Codenamen Operation Nemesis ins Leben gerufen, die die Verantwortlichen des Völkermordes auch ohne staatliche Verurteilung zur Rechenschaft ziehen sollte. 1921 wurde der im deutschen Exil lebende, ehemalige Innenminister Talât Pascha von einem Mitglied dieser Gruppe erschossen. Wenig später wurde der ehemalige Großwesir Said Halim Pascha in Rom ermordet. Einige Monate darauf wurden Cemal Pascha und sein Sekretär Nusrat Bey von Armeniern in Tiflis erschossen.

Adolf Hitler gab später an, durch den Völkermord an den Armeniern und dessen rasches Vergessen für die von ihm geplante Ausrottung der Juden in Europa ermutigt worden zu sein. Insofern hätten die Massaker von 1915-1917 ideengeschichtlich erhebliche, weitere Aus­wir­kungen als nur in der Türkei.39

Unterdrückung bis in die Gegenwart

Auch nach dem Völkermord an den Armeniern gingen muslimische Türken weiterhin zum Teil massiv gegen Christen im eigenen Land vor.

  • Quelle: https://bibelbund.de/2016/06/voelkermord-in-der-tuerkei-und-die-christenverfolgung/
  • vergleiche den Post vor einem Jahr (zum 100. Jahrestag des Völkermords):
    http://www.brink4u.com/2015/04/24/heute-vor-hundert-jahren/
  • Kotschvergleiche den vollen Artikel auf brink4u: http://www.brink4u.com/artikel/gesellschaft/voelkermord-in-der-tuerkei-und-die-christenverfolgung/
  • Zum Autor: Michael Kotsch , Jg. 1965, verh., drei Kinder, ist seit 1995 Lehrer an der Bibelschule Brake, seit 2004 Dozent an der STH Basel und seit 2005 Vorsitzender des Bibelbundes; Autor zahlreicher Bücher.