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Vom Umsturz einer Weltordnung

Basler Münster (rechts). Erasmus Epitaph (links).
Das Basler Münster, Südseite vom Kreuzgang aus gesehen (links). Erasmus Epitaph (rechts).

2006 war ich zum ersten Mal in Basel. Ausgerechnet hier im Basler Münster, einem protestantischen Gotteshaus, befindet sich das Grab von Erasmus von Rotterdam. Als katholischer Priester, Gelehrter und Humanist ist er die Verkörperung dessen, was seine zeitgenössischen Reformatoren ablehnen und bekämpfen. Er aber ist ein scharfer Kritiker sowohl der Auswüchse der Reformationsbewegung als auch der Missstände der römisch-katholischen Kirche. An irgendeinem Zeitpunkt in seinem Leben fasste Erasmus den Entschluss, Griechisch zu lernen und die bis dahin für Jahrhunderte als einzig gültig angesehene Bibelübersetzung zu revidieren. Vor 500 Jahren erscheint seine revidierte Fassung. Wer dieses Jahr nach Basel fährt, bekommt zur Feier dieses Jubiläums einen kleinen Einblick in diese Kulturepoche, die auch ich jetzt sehr selektiv und kurz teilen will.

Vor 500 Jahren also war Erasmus um die 50 Jahre alt, Luther zählte 33 und Kopernikus 43. Gar nicht so unpassend unternahm ein Freund (ebenfalls in 2006) eine Polen-Tschechien-Reise und fotografierte in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau die aufgeschlagene Seite in der Kopernikusschrift De Revolutionibus. Die Erstausgabe erschien 1543 in Nürnberg. Ein Jahrhundert zuvor fiel Konstantinopel an das Osmanische Reich (1453), nun wendet es sich gegen Europa und bald stehen die Türken vor Wien. Es ist der Beginn des 16. Jahrhunderts, das Zeitalter der reformatorischen und der kopernikanischen Wende. Diese Umbrüche haben die ganze Welt umgestaltet, ähnlich der Entdeckung Amerikas (1492) und der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (1455 Druck der Gutenbergbibel). Niemand hat es posaunen gehört und es ging kein Ruf durch die Straßen „Eine neue Zeit hat begonnen!“. Die Feststellung, dass ein großer Wandel stattfand, folgte Jahrhunderte später.

Columbus war nicht der erste Entdecker Amerikas, der Islam war schon mal in Europa eingedrungen und muslimische Truppen hatten die Iberische Halbinsel und Sizilien erobert und besetzt. Das heliozentrische Weltbild wurde schon vor Kopernikus vertreten, kirchliche Reformbewegungen und vollständige und teilweise Übersetzungen der Bibel in europäische Landessprachen gab es schon vor Luther.
Was war jetzt anders? Diese Vorgänge nehmen einen Verlauf, der bisher nicht erreichte gesellschaftliche und politische Begleit- und Folgeerscheinungen entwickelt. Nach und nach erfassen sie sämtliche Bereiche des Lebens – nicht nur einer politischen, religiösen oder gelehrten Elite, sondern der gesamten Bevölkerung – und breiten sich in ganz Europa aus, und mit der Kolonisation bis auf die wieder-entdeckten Kontinente. Einmal wurden, bildlich gesprochen, Himmel und Erde erschüttert und inmitten der Trümmer hatte man bereits begonnen Neues zu bauen.

Bücher werden gedruckt und von immer mehr Menschen gelesen. Der gregorianische Kalender wird eingeführt, das Rechnen mit arabischen Zahlen statt mit römischen. Ein Brillenmacher entwickelt das Fernrohr; ein Astronom baut es für seine Zwecke geeignet nach und richtet es in den Himmel. Die rationale Verständlichkeit der Phänomene im Universum und die Erforschbarkeit der Natur wird begründet. Der Islam droht in das Abendland einzudringen, während die Vertreter des Christentums gespalten und im Krieg gegeneinander sind. In der neuen Welt begehen die europäischen Eroberer furchtbare Greueltaten an den amerikanischen Ureinwohnern. Für den überwiegenden Teil der europäischen Bevölkerung ist das Leben durch Pestepidemien, permanenter Unterernährung, kriegerische Auseinandersetzungen, Enteignung und Vertreibung gekennzeichnet. Schließlich wird der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) schätzungsweise jedem Dritten das Leben kosten.

In der Philosophie schreibt man die Epoche des Humanismus, der einen entscheidenden Impuls durch den Fall von Byzanz erfährt. Als philosophische Strömung ist er keine Neuerscheinung als vielmehr eine Wiederbelebung des klassischen antiken Humanismus, jetzt allerdings mit christlich-mittelalterlichen Akzenten. Das Byzantinische Reich war einst eine führende christliche Macht im Osten. Nachdem es von den Türken erobert und zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches erklärt worden war – nunmehr also unter dem Diktat des Islam stand, – wandern viele byzantinische Gelehrte nach Italien aus und führen antike Schriften, die im westlichen römischen Reich „begraben und vergessen“ sind, sozusagen in ihrem Gepäck mit und machen das Abendland mit ihren Ideen und Traditionen bekannt. Der Buchdruck ermöglicht eine rasche Vervielfältigung und Verbreitung dieser Werke.

Klassische Texte der Antike werden in ihren Originalsprachen lateinisch, griechisch, hebräisch und aramäisch, heraus gegeben, darunter auch mehrsprachige Editionen, die zum Sprachstudium und zur Textkritik anregen. Varianten der alten christlichen und jüdischen Schriften, der alexandrinischen Gelehrten, der griechischen und römischen Philosophen und Dichter werden eifrig studiert und miteinander verglichen. Die neu erworbene Kenntnis dieser Sprachen, besonders der griechischen, und das Schriftstudium, führen zu einer regen Übersetzungstätigkeit und unzähligen Neueditionen, Revisionen und Kommentaren alter Texte.
Ein herausragendes Werk ist die Complutensische Polyglotte, eine vollständige Bibel mit parallel laufendem Text in den ursprünglichen Sprachen nebst der gebräuchlichen lateinischen Vulgata, die um 400 n.Chr. entstand. Der spanische Kardinal und Erzbischof von Toledo Ximénes engagiert für diese Arbeit die wohl am besten ausgebildeten Experten seiner Zeit. Fünfzehn Jahre dauert das Projekt (1502-1517), die Erscheinung wird weitere fünf Jahre hinausgezögert. So geschieht es, dass im Jahr 1516 in Basel Erasmus‘ Novum Instrumentum omne unter den Bibelrevisionen das Rennen macht. Erasmus nutzt für seine Ausgabe, die einen überarbeiteten und kommentierten lateinischen Bibeltext enthält und dem er schließlich das Neue Testament in Griechisch beifügt, den relativ spät datierten byzantinischen Reichstext, der mit den Auswanderern der christlichen Kirchen aus Konstantinopel in den Westen gelangt. Hiermit beginnt die Texttradition des Textus Receptus.
Ausgehend von seiner zweiten und verbesserten Auflage von 1519 erscheinen eine ganze Reihe von Bibelübersetzungen. Luthers Septembertestament entsteht innerhalb weniger Monate auf der Wartburg und kommt 1522 heraus. Dem Oxford-Gelehrten und Priester William Tyndale gelingt es 1525 in Hamburg 3000 Exemplare seiner englischen Übersetzung drucken zu lassen. 1526 kommt in Antwerpen die kommentierte Übersetzung von Jacob van Liesveldt heraus. Es folgen vollständige Bibelübersetzungen, korrigierte, überarbeitete und kommentierte Fassungen. Bedeutende textkritische Editionen, die auf den Arbeiten von Erasmus und der Complutensischen Polyglotte basieren, werden von Robert Estienne und Theodor Beza vorgelegt.
Auf diese Weise werden letztlich die Theologen von ihren philosophischen Haarspaltereien zur Kenntnis des Neuen Testaments zurück geführt (Erasmus‘ Lebensleistung). Für das einfache Volk wird eine unmittelbare Begegnung mit der Heiligen Schrift überhaupt erst möglich (Luthers Verdienst).
Die Bibelübersetzung und -revision geschieht gegen den Widerstand der römisch-katholischen Kirche. Mehrere Werke von Erasmus, darunter auch das Novum Instrumentum, werden auf dem Konziel von Trient auf den Index gesetzt. Viele Übersetzer und Kommentatoren kosten ihre Bemühungen das Leben. Die Kirche läuft Gefahr die Deutungshoheit der Heiligen Schrift zu verlieren.

Erasmus’ Novum Instrumentum omne markiert den Beginn der neutestamentlichen Textkritik, 1. Ausgabe von 1516 (Faksimile)

Der Einfluss der Kirche erstreckt sich fast über das gesamte wissenschaftliche und universitäre Bildungswesen, welches in einer teils entarteten Scholastik verfangen ist und sich an kirchlichen Doktrinen orientiert. Diese sind vom aristotelischen Korpus beeinflusst, der wiederum aus einer bestimmten theologischen Perspektive interpretiert wird. Die aus Kloster- und Domschulen hervorgegangen Universitäten verpassen wichtige naturwissenschaftliche Entwicklungen, weil sie sich nicht in das vorherrschende Verständnis unantastbarer Autoritäten einfügen. Wissenschaftler entwickeln ihre Ideen außerhalb des etablierten Universitätsbetriebes und verzichten teils auf Publikation ihrer Werke, um nicht in den Fokus der Inquisition zu geraten.
Kritiker der scholastischen Tradition und humanistische Reformer der Wissenschaften, darunter Francis Bacon, Descartes und auch Erasmus, fordern eine Abkehr der Naturforschung von der Metaphysik, von Dogmen und der unkritischen Haltung gegenüber Meinungen von Autoritäten. Humanistische Universitäten, Akademien und Kollegs werden gegründet. Aus der Reformationsbewegung heraus gibt es Anregungen zur Neugestaltung des Schulwesens; protestantische Schulen entstehen.
Es wird zunehmend in den europäischen Volkssprachen statt in der Wissenschaftssprache Latein publiziert und damit eine Verbreitung und Diskussion außerhalb des Gelehrtenkreises befördert. Zu den bisherigen Fakultäten Theologie, Medizin und Jurispudenz, kommen weitere Studiengänge hinzu. Die Mathematik wird aus ihrem Dasein als Hilfsmittel von Astronomen, Baustatikern und Kaufleuten zu einer eigenständigen Wissenschaft entwickelt.
Im Zuge dieser Prozesse kommt es in England zur Gründung der Royal Society, die sich erklärtermaßen „nach niemandes Worten“ richten will, sondern auf die Beweiskraft des Experiments baut. Für die Wissenschaften gewinnen direkte Beobachtung, systematische Untersuchung und Durchführung von Experimenten an Bedeutung und werden gezielt weiter entwickelt. Die Erkenntniskraft von Mathematik und Experiment sind bis heute unbestritten – die Berufung auf Autoritäten dagegen eine Selbstverständlichkeit wie eh und je. Eine wissenschaftliche Arbeit, die ohne Zitate anerkannter Fachexperten auskommt, ist entweder das Werk eines Genies oder ein Plagiat.

Auf genauer Beobachtung der Himmelskörper mit dem Teleskop basieren auch die Entdeckungen der Astronomen und stützen das kopernikanische System als physikalische Realität und nicht bloß als mathematische Hypothese. Dieses tritt in Konkurrenz zum ptolemäischen (geozentrischen) Weltbild, das die Kirche gewaltsam aufrecht erhalten will. Gegen Galileo Galilei wird ein Inquisitionsverfahren eingeleitet. Der Wissenschaftler leugnet angesichts des Scheiterhaufens. Er wird zum Hausarrest verurteilt, in seiner Forschungstätigkeit eingeschränkt und darf fortan nicht mehr unterrichten. Erst Papst Johannes Paul II. revidierte das Urteil der römischen Inquisition.

Ein anderer war vor Galilei von einer Wahrheit ergriffen, die mit einem menschlichen Organ oder Instrument nicht erfasst werden kann. Luther widerrief nicht, als sie sein Leben gefährdete. Gegen ihn wird der päpstliche Bann ausgesprochen, dem Karl V. wenige Monate später die kaiserliche Acht hinzufügt (1521). Luther hat eine Zuflucht, die ihn vor der Vollstreckung des Urteils schützt. Die Hoffnung auf eine innerkirchliche Reform (sein Sendbrief an Papst Leo X. kann als letzter Versuch in diese Richtung gelten) ist endgültig geschwunden. Stattdessen wird unwiderruflich ein mannigfaltiger Wandlungsprozess in Gang gesetzt, der das gesamte gesellschaftliche Leben und politische Machtgefüge in Europa umgestalten wird.

Vom Auftretens Luthers an (Oktober 1517 Veröffentlichung der Thesen über den Ablasshandel) breitet sich die Reformationswelle vom Zentrum Europas in verschiedenen Phasen und vielschichtigen Ausprägungen binnen weniger Jahrzehnte in ganz Nord- und Westeuropa aus. Anhänger seiner Lehren – und solche, die nur seinen Namen benutzen, um ihre Interessen durchzusetzen – sind in großen Teilen Deutschlands und in Skandinavien einflussreich. Zu den Unterströmungen der Reformationsbewegung gehören die Hugenotten in Frankreich, die Calvinisten in der Schweiz, die norddeutsch-niederländischen Mennoniten, in England und Schottland treten die Puritaner parallel zum Anglikanismus auf. Auch innerhalb der katholischen Kirche beginnt ein Erneuerungsprozess, der sich u.a. darin niederschlägt, dass neue Orden gegründet werden, um durch die Reformation erfasste Gläubige wieder zu gewinnen und die Neue Welt zu missionieren.

Das heliozentrische System setzt sich erst langsam durch und wird begleitet von einem wieder entdeckten und bis zur Überspitzung „Dass nichts gewusst wird“ gesteigerten antiken Skeptizismus. Der Rückzug auf diese Position ist angesichts der instabilen, verwirrenden Verhältnisse und der weitreichenden religiösen und wissenschaftlichen Umbrüche verständlich. Zudem legt die Art und Weise wie die Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden, nahe, skeptisch gegenüber allen Parteien zu sein. René Descartes setzt sich methodisch mit der skeptischen Sicht auseinander und stellt als Ausgangspunkt seiner Erkenntnisphilosophie fest, dass das Wissen um die eigene Existenz über jeden Zweifel erhaben ist. In der Folge geben seine Überlegungen Anstoß zur Entwicklung philosophischer Strömungen, die mit den christlichen Elementen einen Bruch vollziehen und aus einem mechanistischen Fortschrittsglauben heraus ein rationalistisches Welt- und Menschenbild formulieren.

Die Aufarbeitung der Antike, eingehende Naturbeobachtung, naturwissenschaftliche und mathematische Erkenntnisse und technische Entwicklungen beginnen das Bildungswesen zu prägen und rücken den Menschen in ein neues Verhältnis zur Natur und im weitesten Sinne zu Gott. Seine Selbstwahrnehmung gewinnt nach einem christlich rückgebundenem antik-hellenistischem Vorbild neue Gestalt. Dem Menschen wird als irdisches und historisches Individuum und besonderer Teil der Schöpfung Gottes sein Eigenwert zuerkannt und in Kunst und Musik Ausdruck verliehen. Maler und Bildhauer streben nach Vollkommenheit in naturgetreuer Abbildung des Menschen. Komponisten bemühen sich um Verständlichkeit des gesungenen Textes, der in der mehrstimmigen polyphonen Stimmführung verdeckt wurde. Die Suche nach Harmonie und Schönheit treibt Naturforscher und Mathematiker in ihrer Arbeit. Das trifft in besonderer Weise auf Johannes Kepler zu, der, wie Goethe schreibt, das Wahre anerkennt, nur Gott und die Natur, nicht aber sich selbst zu ehren scheint. Was gibt es für einen Astronomen und pythagoräischen Mystiker Formvollendeteres als die Vorstellung eines Kreises, auf dem ein Planet seine Umlaufbahn vollzieht? Allein die Berechnungen aufgrund der Datenlage und die geometrische Analyse ergeben ein anderes Bild. Als ob es nicht genügte, die Erde aus ihrer zentralen Stellung im Kosmos zu verweisen, behauptet der deutsche Wissenschaftler, dass die Planeten sich auf elliptischen Bahnen bewegen. Kepler war bereit, entgegen der anfänglich eigenen Überzeugung, die Kreisbahnen zu verwerfen. Er versucht seine Entdeckungen mit der Bibel zu versöhnen, was seine protestantischen Vorgesetzten ablehnen. Selbst Galilei hält zeitlebens an den kopernikanischen Kreisbewegungen der Himmelsbahnen fest und weist Keplers Ergebnisse ab. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass auch in Tycho de Brahes Weltmodell, die Sonne um die Erde und die anderen Planeten um die Sonne kreisen. Er war es schließlich, der den Himmel beobachtete und in großem Umfang Daten sammelte, auf deren Grundlage Kepler seine Berechnungen anstellte und schließlich die Planetengesetze formulierte (1609 Neue Astronomie, 1619 Fünf Bücher der Weltharmonie).
Ich stelle mir vor, wie Kepler sich im stillen Kämmerlein auf den Spuren seines genialen Schöpfers in unaussprechlicher Weise seiner Entdeckungen erfreut – ähnlich wie vielleicht einst Luther, als ihm die Gnade Gottes in Römer 1,17 aufleuchtete. Er schöpft aus einer Quelle, die ihm Grund gibt, beharrlich und unbeirrt, gegen Widerstände und Widersprüche, mit dem Vorwurf der Ketzerei und Dummköpfigkeit in seiner Arbeit fortzufahren. An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, dass es Kepler gelungen war, mit Hilfe der Gesetzmäßigkeiten, die er entdeckte und mathematisch ausformulierte, den Venustransit genau voraus zu berechnen. Das war zu der damaligen Zeit schon etwas sehr Besonderes und kann uns auch heute noch in Erstaunen versetzen – die Tatsache, dass mit Stift und Papier und in der Sprache der Mathematik sich Vorgänge voraus berechnen lassen, die sich in der Realität tatsächlich ereignen und doch in ihrer Gesamtheit vom Menschen nicht erfasst werden können.
Lange bevor es dazu kommt, kommentiert Kopernikus die Bestrebungen einer Kalenderreform (diese war notwendig, um die Feiertage im Kirchenjahr genauer bestimmen zu können), man müsse zuvor die astronomische Theorie berichtigen. Aus heutiger Sicht gehört schon Humor dazu, die Zertrümmerung eines Weltbildes als Korrektur zu bezeichnen. Kopernikus sprach es damals wohl eher mit nüchterner Gelehrsamkeit aus.

Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium (Faksimile) – eines der bedeutendsten Werke der europäischen Kulturgeschichte.

Die Kontinuität des christlichen Gedankenguts im Renaissancehumanismus zeigt sich auch in der Kunst, die ebenso christlich wie säkular ist. Raffaels Motive sind geprägt von der Idee der Versöhnung von Religion und Philosophie, Christentum und Antike, Kirche und Staat. Albrecht Dürer und Lucas Cranach stehen mit reformierten Kreisen in engem Kontakt. Cranach stellt seine Malerei in den Dienst der Reformation und der anti-päpstlichen Propaganda.  Dürers Werke lassen sich als humanistische oder reformatorische Zeitkritik deuten. Die Offenbarung in Luthers Septembertestament bebildert Cranach mit 21 Holzschnitten nach Dürers Vorbild. Der letzte Kupferstich Dürers stellt Erasmus von Rotterdam dar. Und noch einen Namen muss ich allein schon deswegen nennen, um diese Zeilen mit ihm zu schmücken, aber nicht annähernd so wie seine Gemälde die Wände von Museen. In Leonardo da Vinci ist der Rennaisancehumanismus lebendig in Erscheinung getreten. Künstler und Naturwissenschaftler, Ingenieur und Dichter verschmelzen bei ihm in einer Person, sodass es oft schwer fällt zu sagen, ob eine seiner Zeichnungen von größerer Bedeutung für die Kunst oder für die Wissenschaft ist.

Nicht aus einen Marmorblock gehauen und nicht mit einem Pinsel auf Leinwand gemalt, aber ebenso meisterhaft in den Worten eines Philosophen ausgedrückt ist Pico della Mirandolas Rede über die Würde des Menschen. Die Würde und Freiheit des Menschen verankert er von seiner Erschaffung an in seiner Gottesebenbildlichkeit. Es stehe ihm frei, auf die unterste Stufe der Tierwelt herab zu sinken oder sich zu den höchsten Sphären der Gottheit zu erheben. Die Perspektive wechselt von der Betonung der Hinfälligkeit und Verlorenheit des sündigen Menschen hin zur Betonung seiner – verglichen mit anderen Geschöpfen – herausragenden Größe und seiner individuellen Möglichkeiten und von Gott verliehenen  Fähigkeiten zur Entfaltung als sein eigener Werkmeister und Bildner. Das neue Selbstbewußtsein des Menschen und die Rückbesinnung auf sein irdisches Dasein tritt in Kontrast zur im Mittelalter zugespitzten Ausrichtung auf das Jenseits und Betonung des Diesseitigen als trostlose Durchgangsstation. Nach der neuen – oder eher wieder belebten – Auffassung ist der Mensch geschaffen, das irdische Leben wert zu schätzen und zu genießen. Aus purer Freude am Naturerlebnis und der Sinneserfahrung besteigt er einen Berggipfel (das tat Petrarca) oder erhebt seinen Geist in astronomische Höhen – denn gibt es eine größere Berufung als die Wunderwerke des Schöpfers im Universum erforschen und zu preisen (wie Kepler es tat)?
Die Leitlinien der humanistischen Bildung, dass die persönlichen Fähigkeiten und Anlagen des Menschen zur Entfaltung gebracht sollen und jeder wert ist nach seiner Neigung und seinen Begabungen gefördert zu werden, finden hier ihre Vorläufer.
So sehr uns dieses neue Menschenbild schmeichelt, bleibt es doch nicht unkontrovers. Einen anderen Charakter hat die von Luther proklamierte Freiheit eines Christenmenschen und seine individuelle Verantwortung vor Gott, die sich sowohl von der humanistischen als auch von der römisch-katholischen Sicht abgrenzt. Es ist eine von Gott geschenkte, nicht durch menschliches Können und Bemühen errungene Freiheit eines jeden Gläubigen vor Gott zu treten, ohne dass die Kirche als Verwalterin der Gnade zwischen Gott und Mensch vermittelt. In der Geistesgeschichte entfacht zum wiederholten Mal eine Diskussion über die Freiheit des menschlichen Willens. Luther und Erasmus reiben sich an dieser Frage. Zunächst einander wohlwollend gesonnen, entzweit die Auseinandersetzung die beiden endgültig.

Einhergehend mit diesem geistigen Klima zeigt sich zum einen vereinzelt die Ablehnung von Veränderung durch Gewalt und die Forderung nach Versöhnung und mehr religiöser Toleranz der christlichen Glaubensgemeinschaften untereinander und gegenüber den Juden (u.a. Johannes Reuchlin, Kepler und Erasmus). Zum anderen ist schon eine Tendenz zur Überbetonung der menschlichen Vernunft erkennbar, die schließlich in ihre Vergötterung zur Zeit der Französischen Revolution umbricht, die das Ende dieser Epoche markiert.

Ganz im Gegensatz zum humanistischen Ideal und der Renaissanceausbildung, die er einst genoss, sind die Herrschaftsprinzipien Heinrichs des VIII. Als 9-jährigen trifft Erasmus den jungen Heinrich, mit dem er später Briefwechsel führt und der nach dem Bruch mit Rom Gründer und höchstes Oberhaupt der anglikanischen Kirche wird (1534). Der Absolutismus ist die charakteristische Staatsform der frühen Neuzeit. In Heinrichs Todesjahr setzt sich in Russland Ivan IV., der Schreckliche, auf den Zarenthron im gerade errichteten Kreml, dem heute ältesten Bauwerk Moskaus. In Österreich regieren die Habsburger, aus denen über 300 Jahre die deutschen Könige und römisch-deutschen Kaiser hervor gehen. Karl V. ist einer von ihnen. Der ehemalige Schüler von Erasmus ist gerade 21 Jahre alt und vor kurzem erst vom Papst zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt worden, als Martin Luther in Worms vor ihm steht. Dieser kleine Mönch gefährdet die Einheit des habsburgischen Weltreichs, das unter Karls Herrschaft seine größte Ausdehnung erreicht. Hier aber ist etwas anderes für die Bestimmung der Größe entscheidend. In dem wie Luther das Ganze vertreten und in seiner Persönlichkeit dargestellt hat, diente er einem anderen. Mit den Worten des Basler Kulturhistorikers Jacob Burckhardt (die er nicht auf Luther bezogen hatte, sondern auf Alexander den Großen, der die hellenistische Kultur bis nach Asien trug) ausgedrückt: Die Bestimmung der Größe scheint zu sein, dass sie einen Willen vollzieht, der über das Individuelle hinaus geht, und der je nach Ausgangspunkt als der Wille Gottes, als Wille einer Nation oder Gesamtheit, als Wille eines Zeitalters bezeichnet wird.

Katharina Wallhäußer
Im September 2016

Literaturhinweise:
Kulturgeschichte der Physik, 2. Auflage 1995
Der Große Ploetz, 32. Auflage 1999
So entstand die Bibel, CLV 1992

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