C. S. Lewis hat vor vielen Jahren einen Artikel heruasgegeben , den wir anläßlich der Ausstellung Weltreligionen in Unterschleißheim gerne in Erinnerung bringen:
- Was sollen wir mit Jesus Christus anfangen
- pdf: lewis_-_was_sollen_wir_mit_jesus_anfangen_01
- Quelle: http://www.iguw.de/uploads/media/Lewis_-_Was_sollen_wir_mit_Jesus_anfangen_01.pdf
- Aus: C. S. Lewis, Gott auf der Anklagebank, Basel & Gießen: Brunnen, 1981, S. 93–98. Abdruckmit freundlicher Genehmigung des Brunnen-Verlages.
Was sollen wir mit Jesus Christus anfangen? – Wenn man es recht überlegt, ist
das eine groteske Frage. Denn in Wirklichkeit geht es nicht darum, was wir mit
Jesus Christus anfangen sollen, sondern was er mit uns anfangen möchte. Das
Mäuschen, das darüber nachdenkt, was es mit dem Elefanten anfangen solle, ist
eine Witzfigur.
Aber vielleicht hat der Fragesteller es anders gemeint und seine Frage könn-
te etwa heißen: Was sollen wir mit der Überlieferung der Aussagen und Taten
dieses Mannes anfangen? Wie sollen wir die Frage nach ihrer Geschichtlichkeit
beantworten? Das aber stellt uns vor das Problem, zwei ganz verschiedene Din-
ge auf den gleichen Nenner zu bringen. Auf der einen Seite haben wir die sitt-
lichen Lehren Jesu, die in ihrer Tiefe und in ihrer überzeugenden Nüchtern-
heit von fast allen Leuten anerkannt werden. Sogar ausgesprochene Gegner des
Christentums betonen oft, wenn ich mit ihnen diskutiere: „Ich habe gar nichts
gegen die Ethik des Christentums.“ Man scheint sich darüber einig zu sein, daß
in den Lehren dieses Mannes und seiner Jünger moralische Wahrheit in reinster
und höchster Vollkommenheit dargelegt ist. Da ist keine Spur von schwärme-
rischem Idealismus, sondern durch und durch Weisheit und Klugheit. Alles ist
wirklichkeitsnah und taufrisch, wie es nur ein gesunder Menschenverstand her-
vorbringen kann. Das ist das eine Phänomen.
Dem gegenüber stehen aber die theologischen Aussagen dieses Mannes in ih-
rer kaum zu fassenden Ungeheuerlichkeit. Sie wissen alle, was ich meine, und
ich möchte sehr betonen, daß Jesus nicht nur an einem Punkt seiner Karriere
mit dieser für unser Gefühl unerhörten Anmaßung auftritt. Gewiß, da ist die ei-
ne Szene, die dann zu seiner Hinrichtung führte, als der Hohepriester ihn fragte:
„Wer bist du?“ – „Ich bin der Gesalbte, der Sohn des ewigen Gottes, und ihr wer-
det mich am Ende der Zeiten wiederkommen sehen als Richter der Welt“ (vgl.
Mk 14,62). Aber dieser Anspruch bleibt wirklich nicht auf diesen einen drama-
tischen Augenblick beschränkt.
Wie ein roter Faden zieht er sich durch die ganzen Evangelien. So konnte Je-
sus beispielsweise zu jemandem sagen: „Ich vergebe dir deine Sünden“ (vgl.
Mk 2,5). Es ist ganz in Ordnung, wenn ein Mensch einem anderen ein Unrecht
vergibt, das er ihmzugefügt hat. Wenn mich jemand um fünf Pfund betrogen hat,
so ist es durchaus möglich und vernünftig, daß ich sage: „Nun gut, ich vergebe
ihm; wir wollen nicht mehr darüber sprechen.“ Aber wie in aller Welt würden
Sie es finden, wenn jemand Sieum fünf Pfund betrogen hätte, und ich würde
sagen: „Schon gut, ich vergebe ihm!“
Eine andere befremdliche Bemerkung scheint ihm fast zufällig über die Lip-
pen zu kommen: Eines Tages sitzt dieser Mann auf einem Hügel und schaut auf
Jerusalem hinab, und plötzlich läßt er die erstaunlichen Worte fallen: „Wie oft
habe ich Propheten und Weise zu dir gesandt!“ (MaĴh 23,34.37) – und niemand
entgegnet etwas darauf. Dabei hat er ganz beiläufig, als wäre das selbstverständ-
lich, behauptet, er sei die Kraft, die durch die Jahrhunderte Weise und führende
Männer in die Welt gesandt habe.
Oder nehmen wir eine andere seltsame Bemerkung: Fast alle Religionen ken-
nen unbequeme Vorschriften; dazu gehört das Fasten. Eines Tages erklärt dieser
Mann plötzlich: Niemand muß fasten, solange ich da bin“ (vgl. Mk 2,18–20). Wer
ist dieser Mensch, der behaupten kann, seine bloße Anwesenheit setze alle nor-
malerweise gültigen Vorschriften außer Kraft? Wer ist der Mann, der plötzlich,
einfach so, den Schulkindern sagen darf, heute sei schulfrei?
Manchmal geht er so weit zu behaupten, er, der Redende, sei völlig sünd- und
fehlerlos, ja, das ist sogar seine Grundhaltung. „Ihr, zu denen ich spreche, seid
allesamt Sünder!“ (z. B. Joh 8). – Und niemals macht er auch nur die geringste
Andeutung, daß man ihm das gleiche vorwerfen könnte.
Oder er erkühnt sich zu sagen: „Ich bin aus Gott gezeugt; ehe Abraham war,
bin ich“ (Joh 8,58) – und denken Sie daran, was die Worte „Ich bin“ auf hebräisch
bedeuteten. Das ist der Name Gottes, den bei Todesstrafe kein menschliches
Wesen in den Mund nehmen durfte.
Das also ist das zweite Phänomen. Auf der einen Seite klar umrissene Maß-
stäbe moralischen Verhaltens; auf der anderen Seite Ansprüche, zu denen, falls
sie nicht wahr sind, nur ein Größenwahnsinniger fähig ist; Hitler wäre daneben
der vernünftigste und demütigste Mensch der Welt gewesen. Es gibt keine Über-
gänge vom Christentum zu anderen Religionen und nirgends eine Parallele zu
ihm. Wenn Sie zu Buddha gegangen wären und ihn gefragt hätten: „Bist du der
Sohn Brahmas?“, so hätte er geantwortet: „Mein Sohn, du lebst noch im Tal der
Illusion.“ Wenn Sie zu Sokrates gegangen wären und ihn gefragt hätten: „Bist
du Zeus?“, so hätte er Sie ausgelacht. Wenn Sie zu Mohammed gegangen wären
und ihn gefragt hätten: „Bist du Allah?“, so hätte er zuerst seine Kleider zerris-
sen und Ihnen dann den Kopf abgeschlagen. Wenn Sie Konfuzius gefragt hätten:
„Bist du der Himmel?“, so hätte er wahrscheinlich etwa geantwortet: „Bemer-
kungen, die nicht mit der Natur im Einklang stehen, sind geschmacklos.“
Keiner der großen Sittenlehrer der Welt hat sich je ähnliche Dinge angemaßt
wie Jesus. Meiner Meinung nach kann nur Gott selbst solche Dinge sagen – oder
ein schwer Geistesgestörter, dessen ganze Persönlichkeit von seinen Wahnvor-
stellungen zerrüĴet ist. – Wenn Sie sich einbilden, Sie seien ein weichgekochtes
Ei, weil Sie gerade nach einem Stück Toast suchen, das Ihnen zusagt, dann ist
Ihnen vielleicht noch zu helfen. Aber wenn Sie sich einbilden, Sie seien Gott,
dann sind Sie ein hoffnungsloser Fall …
Am Rande bemerkt: Jesus wurde nie als bloßer Moralprediger angesehen. Nie-
mals hatten die Menschen, die ihm bei Lebzeiten begegneten, diesen Eindruck
von ihm. Sein Auftreten erregte bei ihnen entweder Haß – oder Erschrecken –
oder Bewunderung; mildes, neutrales Wohlwollen gab es nicht.
Wie sollen wir nun aber diese beiden widersprüchlichen Phänomene auf einen
gemeinsamen Nenner bringen? Ein Versuch geht dahin zu erklären, der Mann
habe diese Dinge gar nicht wirklich gesagt. Erst seine Jünger hätten beim Er-
zählen die Geschichte übertrieben, und so sei die Legende entstanden, er habe
so geredet. Aber das hat einen Haken, denn all seine Jünger waren Juden. Das
heißt sie gehörten zu dem Volk, das wie kein anderes davon überzeugt war, daß
es nur einen Gott gebe – daß es unmöglich einen zweiten geben könne. Es wäre schon merkwürdig, wenn einem religiösen Führer diese lästerliche Anmaßung ausgerechnet in dem einen Volk angedichtet worden wäre, das am allerwenigsten zu einem solchen Irrtum prädestiniert war. Vielmehr bekommen wir den Eindruck, daß es keinem seiner unmittelbaren Jünger leicht fiel, Jesu Aussagen anzunehmen, und ebenso wenig den Schreibern des Neuen Testaments.
Noch aus einem anderen Grund scheint es mir unhaltbar, die Berichte über
diesen Mann für Legenden zu erklären. Als Literaturhistoriker bin ich restlos
davon überzeugt, daß die Evangelien keine Legenden sind – was immer sie auch
sonst sein mögen. Ich habe sehr viele Legenden gelesen, und es ist für mich ein-
deutig, daß die Jesusgeschichten nicht in diese GaĴung passen. Sie sind nicht
kunstvoll genug, um Legenden zu sein. In der Darstellung ihrer Inhalte sind
sie unbeholfen, sie arbeiten die Dinge nicht sauber heraus. Der größte Teil des
Lebens Jesu bleibt uns genauso unbekannt wie das Leben irgendeines seiner
Zeitgenossen. Kein Volk, das einen seiner Helden zum legendären Heiligen er-
heben wollte, würde so etwas zulassen. Auch kenne ich, außer einigen Teilen aus
den platonischen Dialogen, in der Literatur des Altertums keinerlei Gespräche,
wie sie etwa im Johannesevangelium vorkommen. Bis fast in unsere Zeit gab es
so etwas einfach nicht. Erst vor etwa hundert Jahren, mit dem AuĤommen des
realistischen Romans, fand das Gespräch Eingang in die Literatur.
Und noch ein anderer Aspekt: In der Geschichte von der Ehebrecherin wird
uns erzählt, Jesus habe sich gebückt und mit dem Finger etwas in den Staub ge-
kriĵelt (Joh 8,6.8). Dieser Hinweis bringt nichts ein. Niemand hat je irgendeine
Lehre darauf gegründet. Aber solch kleine, unbedeutende Details zur glaubhaf-
teren Darstellung einer erdichteten Geschichte nur zu erfinden– das wäre ein
ganz moderner Kunstgriff. Ist nicht die einzige Erklärung für diese Schilderung
die, daß es sich wirklich so zugetragen hat? Der Schreiber erzählte es, einfach
weil er es gesehen hatte.
Schließlich kommen wir zum seltsamsten aller Berichte, zum Auferstehungs-
bericht. Mit dieser Geschichte müssen wir unbedingt ins reine kommen. Ich hör-
te einmal den Ausspruch: „Die Auferstehung beweist, daß es ein Leben nach
dem Tode gibt, darum ist sie so wichtig. Sie beweist, daß die Persönlichkeit des
Menschen den Tod überdauert.“ Nach diesem Verständnis wäre an Christus
nichts anderes geschehen, als was im Tod schon immer an jedem Menschen ge-
schau. Das Besondere wäre einzig, daß es bei Christus sichtbar wurde.
Diese Deutung entspricht aber bestimmt nicht der Auffassung der frühesten
christlichen Schreiber. Nach ihrem Verständnis haĴe sich etwas völlig Neues,
in der ganzen Geschichte noch nie Dagewesenes ereignet. Christus haĴe den
Tod besiegt. Ein Tor war aufgesprengt worden, zum allererstem Mal, ein Tor,
das seit Urzeiten verschlossen und verriegelt gewesen war. Da geht es um et-
was ganz anderes als um ein rein geistiges Weiterleben. Ich meine nicht, daß
sie an eine Unsterblichkeit des Geistes nicht schon immer geglaubt haĴen. Im
Gegenteil, sie glaubten so fest daran, daß Christus ihnen mehr als einmal ver-
sichern mußte, er sei keinGeist. Das ist ja gerade das Bemerkenswerte: Obwohl
sie an ein Weiterleben nach dem Tode glaubten, war die Auferstehung für sie et-
was völlig anderes, etwas ganz und gar Neues. Die Auferstehungsberichte sind
nicht ein Bild für das Weiterleben nach dem Tode; sie bezeugen, daß eine ab-
solut neue Existenzform in dieser Welt begonnen hat. Etwas Neues ist in die
Welt gekommen, so umwälzend neu wie einst das erste organische Lebewesen
bei seiner Entstehung. Dieser Mensch wird nach dem Tode nicht in „Geist“ und
„Körper“ geschieden. Er ist zu einer neuen Art des Seins erstanden. Das sagt die
Geschichte. Was aber fangen wir damit an?
Mir scheint es fraglich, ob irgendeine Hypothese sich mit den Tatsachen so gut
deckt wie die christliche. Diese „Hypothese“ sagt: Gott ist in seine Schöpfung
hinabgekommen, hinab zur Menschheit – und ist wieder aufgestiegen, wobei er
seine Schöpfung mit sich emporgezogen hat. Die Alternative zu dieser Hypothe-
se liegt nicht in Erklärungen wie: „Es sind Legenden oder Übertreibungen oder
Geistererscheinungen.“ Die Alternative heißt: Größenwahn, Lüge. Und wenn
man diese Alternative nicht annehmen kann (und ich kann es nicht), so bleibt
nur die christliche Hypothese.
„Was sollen wir mit Jesus Christus anfangen?“ Es ist doch wirklich nicht die
Frage, was wirmit ihm anfangen sollen, sondern es geht einzig darum, was
er mit uns anfangen möchte. Sie können zwar das, was von ihm überliefert ist, an-
nehmen oder zurückweisen. Was er aber sagt, ist grundlegend anders als alles,
was je ein anderer Lehrer gesagt hat. Alle anderen sagen: „Das ist die Wahrheit
über die Welt. Das ist der Weg, den man gehen sollte.“ Jesus aber sagt: „Ich bin
die Wahrheit. Ich bin der Weg und das Leben.“ Er sagt: „Niemand kann wirkli-
ches Leben erlangen außer durch mich. Versuche, dein Leben zu bewahren, und
du wirst unwiderruflich zugrunde gehen; verschwende dich selbst an andere,
und du wirst gereĴet werden“ (vgl. Joh 14,6; 12,25; Mk 8,35).
Er sagt: „Wenn du dich meiner schämst – wenn du mich rufen hörst und auf
die andere Seite schaust, dann werde auch ich von dir wegschauen, wenn ich
vor aller Augen in GoĴes Herrlichkeit wiederkomme. Wenn irgend etwas dich
von Gott und mir trennt, so wirf es weg, was immer es auch sei. Wenn es dein
Auge ist, reiß es aus; wenn es deine Hand ist, hau sie ab. Wenn du dich selbst
an den ersten Plaĵ stellst, so wirst du einmal der Leĵte sein. Wer eine schwere
Last zu tragen hat, der soll zu mir kommen, ich will ihm Ruhe schenken. Eure
Sünden sind ausgelöscht, und wenn es noch so viele wären, ich kann das tun. Ich
bin Wieder-Geburt. Ich bin Leben. Eßt mich, trinkt mich, ich bin eure Nahrung“
(vgl. Mk 8,38; 9,43ff; Lk 14,7-11; Matth 11,28; Joh 11,25; Joh 6,51). Und schließlich:
„Habt keine Angst, denn ich habe die ganze Welt überwunden“ (vgl. Joh 16,33)
– Darum geht es!
Institut für Glaube und Wissenschaft, Marburg,
www.iguw.de