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Die totale Anständigkeit – oder „Ist das Gedicht frauenfeindlich?“

Quelle: https://theoblog.de/ist-das-gedicht-frauenfeindlich/30799/

19. September, 2017

Wenn man in Berlin mit der U5 Richtung Hönow fährt, erreicht man die Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Die Einrichtung bildet Sozialarbeiter aus, Kindheitspädagogen, Pflegemanager und Physiotherapeuten. Meist arbeiten Frauen in diesen Berufen. Seit ein paar Jahren vergibt die Hochschule einen Poetik-Preis. Ein Preisträger ist der aus Bolivien stammende und in der Schweiz lebende Dichter Eugen Gomringer. Er ist 92 Jahre alt. Sein Gedicht „avenidas“ steht an der Südfassade der Hochschule in großen Buchstaben. Er hat es der Hochschule überlassen.

Der spanische Text lautet übersetzt:

Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer.

Dieses Gedicht ist inzwischen Gegenstand einer hitzigen Debatte in Berlin. Manche sprechen sogar von einem Kulturkampf. Es begann mit einem Offenen Brief von im Asta organisierten Studenten. Sie beziehen sich in dem Schreiben auf das Gedicht und die U-Bahn-Station auf dem Platz vor der Schule. Sie sagen:

Ein Mann, der auf die Straßen schaut und Blumen und Frauen bewundert. Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind.

Die Studenten fordern:

  1. Deine Stellungnahme, von wem und mit welcher Begründung dieses Gedicht für die Hochschulwand ausgewählt wurde
  2. die Thematisierung einer Gedichts-Entfernung/-ersetzung im Akademischen Senat zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Wir würden es begrüßen, wenn zu dieser Sitzung alle Unterzeichnerinnen des Briefes eingeladen werden.

Die Hochschule hat inzwischen Stellung genommen. Das hat die Studenten animiert, sich ein weiteres mal zu erklären. Sie wüssten nicht genau, wie der Dichter das Gedicht gemeint habe, aber irgendwie gebe es ihnen ein komisches Bauchgefühl. „Kunst war immer Geschmackssache und diese trifft nicht unseren Geschmack.“

Muss ein Kunstwerk entfernt werden, weil es bei einigen linken Studenten ein komisches Bauchgefühl hinterlässt und ihren Geschmack nicht trifft?

Susanne Lenz hat nun für die Berliner Zeitung den Kulturkamp scharfsinnig und erfrischend kommentiert:

Bauchgefühl, Geschmack. Hier liegt wohl das erste Missverständnis. Kunst hat nicht die Aufgabe, nur schön und angenehm zu sein. Sie soll auch provozieren, Denkanstöße geben, unbequem oder unangenehm sein.

Und dass es sich hier nur um eine Geschmacksache handelt, stimmt einfach nicht. In seinem Antrag hat der Studentenausschuss Kriterien aufgestellt, dem Vorschläge für die neue Fassadengestaltung genügen müssen: „Das eingereichte Werk darf in keiner Hinsicht diskriminierend sein. Sexistische, rassistische, ableistische, lookistische, klassisistische, ageistische oder sonstige diskriminierende Bezüge werden nicht akzeptiert.“

So klingt es, wenn alle Formen von Benachteiligung auf einmal in den Blick genommen werden. Das Ziel ist die totale Anständigkeit. Welches Gedicht könnte dieser Art von Überwachung standhalten, zumal schon Assoziationen genügen, um es unter Diskriminierungsverdacht zu stellen?

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