Quelle: Katharina Wallhäußer in: http://wuestegarten.de/?p=736
Ich hatte mir schon Sorge gemacht, ob die “Krähe” aus Wuestegarten noch schreibt. Hier die befreiende Nachricht: sie tut noch so …
Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde. usw. usf.
Wenn jemand einigermaßen Berechtigung hat, in dieser Haltung vor dem Richterstuhl des Allmächtigen zu erscheinen, dann ist es gewiss nicht Rousseau, der sich der kniefälligen Verbeugung seiner Mitmenschen zu den Füßen des göttlichen Thrones sicher war, sondern sein Zeitgenosse Leonhard Euler.
Ein Bewusstsein seiner Einzigartigkeit ging dem Mathematiker indes völlig ab. Doch wurde ihm genau das stets von allen, die mit ihm in Berührung kamen, bescheinigt. Bisher ist mir kaum ein biografischer Text in die Hände gefallen, der nicht ein Wort über die Bescheidenheit dieses herausragenden Mannes verliert. Mit Staunen und Bewunderung notierte der Verfasser einer Eloge auf Euler, dass dieser es zustande brachte, Freunde und Förderer selbst unter den Jähzornigen, Eingebildeten und Ruhmsüchtigen zu gewinnen, darunter auch solchen, die zu seinen Rivalen zählten. Er galt als gütiger, frommer Mann, wunderbarer Lehrer, frei von falschem Stolz und Missgunst, „freute sich an den Entdeckungen anderer und überließ ihnen gelegentlich sogar großzügig seine eigenen“. Euler fürchtete nicht um seine Reputation und war sich nicht zu schade, den Glauben an die Unfehlbarkeit der mathematischen Analyse durch Experimente und Modellbau zu stützen.
Im Todesjahr Newtons, 1726, erschien seine erste Publikation und 1862, 97 Jahre nach seinem Tod, eine vorerst letzte Schriftensammlung aus dem Nachlass. Er verfasste über zwanzig Bücher und über 800 Schriften, über drei Hundert davon sind posthum erschienen. Die Edition seiner Werke und Briefe, Leonhardi Euleri Opera Omnia, füllt mehr als 80 Quartbände. Er schrieb auf Russisch, Deutsch, Latein und Französisch. Sein Einfluss erstreckt sich nicht auf das Gebiet der Mathematik allein, wo er ein breites Spektrum abdeckte, sondern umfasst vielfältige Arbeiten und Entdeckungen in Physik, Astronomie und Mechanik. Gewiss nicht um Newtons Verdienst zu schmälern, sondern um Eulers recht zu würdigen, schrieb E.T. Bell: Newtons Principia Mathematica hätte auch von Archimedes verfasst werden können, Eulers Mechanica hingegen von keinem der Griechen.
12 Mal gewann Euler den Preis der Pariser Akademie der Wissenschaften, zu deren außerordentlichem 9. Mitglied der ohnehin schon außerordentlichen und auf maximal 8 Personen beschränkten Gruppe der Associé étranger er ernannt wurde. Das Online-Mathematiklexikon mathworld enthält 96 Einträge, die Eulers Namen tragen, gefolgt von Gauß, dem Fürsten der Mathematiker, mit 70 Einträgen. In 1988 wählten die Leser des Mathematical Intelligencer die Eulersche Identität zur schönsten aller Formeln; unter den Top-Ten der Umfrageergebnisse belegte Euler die ersten beiden Plätze sowie die Plätze 5 und 10. Mit seinen Publikationen stürmte er bereits zu Lebzeiten die Bestsellerlisten und legte die Grundlage für vielfältige technische Entwicklungen, die wir heute täglich nutzen.
Euler verließ seine Heimat mit etwa 20 Jahren und kehrte nicht wieder dorthin zurück. Später würde sein Land seine Verdienste u.a. mit einer Banknote würdigen. In 1909 begann die Schweizer Akademie der Wissenschaften Eulers Werke zu sammeln und für die Publikation aufzubereiten. Die beauftragte Kommission war fassungslos über die Masse der Manuskripte, die das St. Petersburger Euler-Archiv aufbewahrte und mit dem für das Projekt veranschlagten Budget nicht annähernd zu bewältigen war. Mit der Opera Omnia setzte sie ihm ein literarisches Denkmal; das erste Band erschien im Jahr 1911 und bis heute dauert die Arbeit an. Das ist nicht der einzige Grund, warum ein Biograf bemerkte, dass ein einziges Menschenleben kaum hinlangen wird, das Gesamtwerk wenigstens zu lesen. Euler aber schuf es im Verlauf eines Lebens.
Geboren 1707 in Basel, gestorben 1783 in Sankt Petersburg war Euler die letzten 15 Jahre seines Lebens vollständig blind. Sein rechtes Auge verlor er bereits in jungen Jahren infolge einer Infektion. Der Verlust des Augenlichts schärfte wie nichts anderes Eulers Vorstellungsvermögen und hat seiner Schaffenskraft keinen Abbruch getan, sondern sie nur noch mehr befördert. Aber auch ohne diese Einschränkung und andere Tragödien, die sich in seinem Leben ereigneten, muss er zu jenen Menschen gerechnet werden, die überall und in jeder Lebenslage produktiv sein können. Euler war sehr kinderlieb, hatte 13 eigene Kinder und „rechnete mit einem Kind auf den Knien und mit einer Katze auf dem Rücken wie andere atmen,“ während die älteren Kinder um ihn herum spielten.
Die kommende Artikelserie ist dem Andenken dieses Mannes und seiner Zeit gewidmet, der Zeit Bachs und Goethes, Kants und Voltaires, George Washingtons und Benjamin Franklins, die Euler an den Akademien Friedrichs II. und Katharinas der Großen verbrachte, der Zeit der Aufklärung am Vorabend der Französischen Revolution.
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