Der Ursprung des Bösen: Wie kann das Übel in der Welt erklärt werden?
Der mittelalterliche Lehrer Thomas von Aquin und die „Theodizeefrage“: ein Denkanstoß.

Die Frage nach dem Bösen in der Welt ist eine der Grundfragen, die immer wieder gestellt und diskutiert werden. Sowohl für die Verteidigung einer Glaubenslinie als auch für die Seelsorge ist es von Bedeutung, wie das Thema verstanden wird. In der Zeit der Aufklärung wurde der Begriff „Theodizee“ geprägt. Der Philosoph Leibnitz (1646 – 1716) bezeichnete damit den philosophischen Lösungsversuch des Problems, wie sich der Glaube an einen allwissenden, allmächtigen Gott, der auch allgütig ist, mit dem Vorhandensein des Bösen in der Welt vereinbaren lässt.

Natürlich stellt sich einem Menschen, der es mit konkretem Leid zu tun hat, diese Frage nicht auf einer theoretisch-philosophischen Ebene, sondern sehr persönlich. Aber es ist durchaus verständlich und sicher auch legitim, eine Verstehensbrücke zu diesem Problem für den dürstenden Verstand aufzurichten. In der Zeit des Hochmittelalters war es der Dominikaner Thomas von Aquin (1224/25 – 1274), der sich in seinem Monumentalwerk, der Summa theologiae, im zweiten Buch in der 18. Questio (Frage) mit der Überschrift „Über das Gutsein und das Schlechtsein der menschlichen Handlungen im allgemeinen“ über das Wesen des Bösen auslässt und dadurch indirekt diese Frage behandelt. Thomas ́ theologisches Werk ist am besten vergleichbar mit dem Bau einer gotischen Kathedrale: ein riesiges Denkgebäude, universal und in immer höheren Dimensionen angelegt.

Es gibt eine Hierarchie alles dessen, was ist: Gott steht an der Spitze und ist über allem erhaben. Die Logik des griechischen Philosophen Aristoteles stand bekannterweise Pate, aber auch der Kirchenvater Augustinus. Thomas wurde durch seine unbändige Schaffenskraft und Originalität berühmt und im 14. Jahrhundert trotz nicht eindeutig zu beweisender Wundertätigkeit vom Papst heiliggesprochen. Bei der Frage des Bösen geht er vom „Sein“ aus: je höher das „Sein“ ist, desto mehr muss darin enthalten sein, auch ethische Kategorien. Wenn Gott also das höchste „Sein“ ist, dann ist er auch das höchste Gut-Sein, also ohne einen Mangel. Wenn das Böse in der Welt, die Gott geschaffen hat, dennoch vorhanden ist, ist es nicht eigentliches „Sein“. Also ist es nicht so wirklich wie das Gute.

Thomas ́ Ausgangspunkt für all das: einige philosophisch-theologische Fragen lassen sich verstandesmäßig – auch ohne Offenbarung – erschließen (nicht z. B. das Erlösungswerk Christi). In Bezug auf das Böse und letztlich auch das Verständnis von Sünde entsteht daraus ein System unterschiedlicher moralischer Stufen, in denen in einem gewissen Umfang der Mensch dann auch ohne Erlösung das Richtige tun kann. Das Böse ist mehr oder weniger ein Mangel an Gutem. Der Versuch, das Böse in der Welt so zu erklären, dass es seinen angemessenen Platz in der Hierarchie des Universums findet, löst das Theodizeeproblem aber nicht und hat Einfluss auf das Verständnis von Sünde: ist sie wirklich real? Ja, aber da sie nicht von Gott verursacht wurde weit weniger als das Gute. Die Problematik: Sünde und das Böse werden in ihrer grausamen Lüge und Zerstörungskraft nicht in der ganzen Tiefe erkannt, entsprechend fehlt dann die Einsicht für eine radikale Sicht der Erlösung und es wird – so auch geschehen – rechtfertigend Raum für ein kirchlich verwaltetes Buß- und Heiligungssystem geschaffen, in dem letztlich das Werk Christi geschmälert wird.

Die Versuchung, ein durchgängig schlüssiges „System“ zu erlangen war kein Exklusivproblem der hochmittelalterlichen Scholastik: Steckt nicht dahinter der Wunsch, alles gedanklich im Griff haben zu wollen? Der „Doctor angelicus“ (engelgleicher Lehrer) dachte viel nach, nicht aber unbedingt in den Bahnen der Heiligen Schrift. Denn unser Denken selbst ist in der Welt des Bösen von Natur aus gefangen (deshalb Röm 12,2 mit dem Aufruf, den Denksinn erneuern zu lassen!). Es gibt keine nur rationale Erkenntnis, die uns helfen würde, weder in Bezug auf das Böse in der Welt noch in Bezug auf das Böse in uns. Deshalb benötigen wir einen Retter, der die tief in uns wurzelnde Sünde und auch strukturell reale Vielfalt all des Bösen und Finsteren in der Welt durch seinen machtvollen Brückenschlag eines Sühneopfers in seiner ganzen Tiefen-dimension durchbricht.

Otto Riecker schreibt: „Theologen sind Denker aus Leidenschaft. Es handelt sich aber hier um eine natürliche Gegebenheit, so, wie andere große Maler oder große Musiker sind. Diese Begabung muss aber, wenn sie in den Dienst der Welterlösung Gottes treten will, durch viel Zerbruch im persönlichen Leben, durch Demütigung und Demut, durch echte geistliche Gnade in Grundauffassung und Werk gehen, wenn sie für den Dienst gebräuchlich werden soll.“ (Riecker, Otto, Kirche und Christen im Wandel der Zeit, Hänssler, Neuhausen-Stuttgart 1984, S. 80).

Klaus Giebel

Beiträge aus der Kirchen- und Dogmengeschichte zu seelsorgerlichen Themen (Folge 4)
GIBB-Informationen, Nr. 73 / Februar 2015