Johann Hinrich Wichern und die evangeliumsgemäße Kraft der barmherzigen Liebe
Wie verhalten sich Seelsorge, biblisches Verständnis und diakonische Hilfestellung? Als Denkanstoß zur Beantwortung dieser Frage mag uns an dieser Stelle das Lebenswerk von Johann Hinrich Wichern (1808-1881) dienen.

Das 19. Jahrhundert war neben anderen Veränderungen auch von starken sozialen Einbrüchen geprägt (Stichwort: Frühindustrialisierung, in Deutschland ca. ab 1835). Das Jahr 1848 war nicht nur das Jahr der europaweit bedeutsamen sogenannten „Märzrevolution“ (Nationalismen, liberale Bewegungen gegen die alten ständischen Ordnungen), sondern auch das Jahr, in dem Karl Marx und Friedrich Engels das „kommunische Manifest“ veröffentlichten („Proletarier aller Länder vereinigt euch“). Aber um dieses Jahr 1848 prägte Wichern in Deutschland die Sozialgeschichte als geistlichen Kontrast zu den neuen, großenteils auch gegen das klassische Christentum angelegten Ideale des Liberalismus und der kämpferisch-sozialen Bewegungen. Er gründete u.a. das „Raue Haus“ nahe bei Hamburg (Hamburg-Horn, heute ein Hamburger Stadtteil), wo er Kinder und Jugendliche aufnahm, die in einer sozialen Elendssituation waren. Mit seinen Ideen prägte er den Begriff der „Inneren Mission“. Dabei sah er die Ursache des sozialen Elends in der geistlichen Not der Gesellschaft, aber auch in seiner (lutherischen) Kirche, die sich nicht mehr um ihr Kernanliegen kümmerte.

Gleichzeitig suchte er einen gesunden Ausgleich zwischen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und der Verantwortung des Einzelnen bzw. der Familien. Mit seinen Überzeugungen war er ein Kind der inner- und außerkirchlichen „Erweckungsbewegung“, die sich christozentrisch in Evangelisation und Heiligungsansprüchen artikulierte. In der Art und Weise, wie er als evangelischer Theologe mit der Bibel umging, kommt dies exemplarisch zum Ausdruck. So machte sich Wichern bei aller sozialen Not ausgiebig Gedanken, wie das Evangelium auch für verwahrloste, verarmte und sozial entgleiste Lebensbedingungen – in der Pädagogik, in Gefängnissen – umfassend angewandt werden konnte. Alle seelsorgerlichen und diakonischen Dienste waren für Wichern nicht ohne das kraftvolle Evangelium, das der Gemeinde Jesu anvertraut war, denkbar.

Vielmehr war das biblische und auf Christus ausgerichtete Evangelium der Schlüssel zu dem Lebenswerk Wicherns.

„Den Armen muss das Evangelium gepredigt werden! Diese zukünftige Tatsache muss eins der größten Zeichen der Wiedergeburt und inneren Erneuerung der Kirche werden. Die Frucht wird sein, dass die Armen kraft der göttlichen Predigt glauben – glauben, wie das Glauben allein gemeint sein kann, namentlich zur Erneuerung ihres ganzen persönlichen, häuslichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens. Wo dieser Glaube ist, da ist die Grundlage aller Hilfe, namentlich die Macht zur Überwindung aller derjenigen Kräfte gewonnen, welche heute aus den Pforten der Hölle hervorgetreten sind und drohen, wenn auch nicht die Gemeinde zu vernichten (was unmöglich ist), doch Tausenden von Kirchengliedern das Heil zu rauben und ein neues Heidentum neben der Kirche heraufzubeschwören.

Das Größte und Erfreulichste, was für den uns vorschwebenden Zweck geschehen könnte, wäre, dass diejenigen, die bis heute tatsächlich die ersten und an vielen Stellen die einzigen Vertreter der Kirche sind – nämlich die Prediger, von dem erneuten Beruf der Kirche an die Proletarier innerlich erfüllt, von der Macht der Wahrheit, dass hierfür künftig geholfen werden muss und kann, lebendig ergriffen würden.“ [Zit. aus Klassiker des Protestantismus, Bd. 8, S. 207-208]

Das sogenannte „Raue Haus“ sollte ein exemplarisches und sehr erfolgreiches Modell für eine umfassende seelsorgerlich-diakonische Bewegung werden. Er wandte sich dabei auch entschieden gegen eine Zweiteilung von diakonischem und seelsorgerischem Auftrag:

„…Dann würden also die Armen stets unter zweierlei Operationen gestellt, in dem Falle doppelter Einwirkung übergeben; würde der leibliche Versorger den Armen zugleich das Vertrauen und die Geduld in der Trübsal empfehlen wollen, so wäre sein Mund geschlossen, und er müsste erst den seelsorgerischen Diakon rufen; und wollte dieser etwa dem Hungrigen das Brot brechen, so wären ihm die Hände gebunden, und er müsste den für das Leibliche bestellten Diakon einladen, für ihn einzutreten…Gerade auf diesem Gebiet gehört Leibliches und Geistliches zusammen; …“ (Ausgewählte Schriften, Band 1, Bertelsmann1956, hrsg. v. K. Janssen, S. 170-171).

Ein zentraler Leitgedanke waren für ihn Gedanken aus den neutestamentlichen Schriften des Apostels Johannes. In diesem Sinne war für ihn das „Prinzip aller christlichen Armenpflege … die christliche Liebe, d.h. dass die Armen und ihr Zustand stets unter die Zucht und Regel Christi gestellt werden“ (Meißner, E., Der Kirchenbegriff J. H. Wicherns, Bertelsmann 1938, S. 194).

Sein nach seinem Tode geöffneter testamentarischer Brief schließt mit den Worten aus 1Joh 3,14 „Wer nicht liebt bleibt im Tode“.

Für ihn waren Erlöstsein in Christus und Werke der Liebe keine Gegensätze und auch keine voneinander unabhängigen Größen, sondern bildeten eine Einheit.

Klaus Giebel
in: Beiträge aus der Kirchen- und Dogmengeschichte zu seelsorgerlichen Themen (Folge 5)
GIBB-Informationen, Nr. 74 / Juli 2015